Recycling III, oder: Das zweite Handbuch

Meine Freundin sagt, in meinem nächsten Buch geht es um Recycling. Ich sagte zu ihr: „Da merkt man, dass du Umweltingenieurin bist“. Aber sie besteht darauf und sagt: „Da steht doch auf dem Titel: ‚Vom Nutzen des Unnützen‘ – genau das ist Recycling!“ Nach ein bisschen Nachdenken habe ich ihr zugestimmt: „Ja, wir recyceln Leben. Probleme, Symptome, Erinnerungen, Werte, Worte.“

Also, jetzt wird recycled. Nach dem „Grashalm in der Wüste“ und dem „Handbuch des therapeutischen Erzählens“ erscheint jetzt im nächsten April von mir ein Buch zu therapeutischer Utilisation, also dazu, wie man scheinbar Nutzloses, Belangloses oder Schädliches für die Therapie nutzbar macht und insbesondere die Probleme zur Lösung der Probleme nutzt.

Die bibliographischen Angaben des Buches lauten:

Stefan Hammel (2011): Handbuch der therapeutischen Utilisation. Vom Nutzen des Unnützen in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde und Beratung. Klett-Cotta, Stuttgart.

Das Buch hat etwa 280 Seiten und dürfte Anfang April auf den Markt kommen. Vorbestellungen sind schon jetzt im Buchhandel möglich.

Recycling II

Das erinnert mich an eine Beobachtung in verschiedenen Städten in Kambodscha. Ich denke zum Beispiel an Phnom Penh.

Wir gehen durch eine Einkaufsstraße.
„Wick-wack, wick-wack.“
Eine Hupe, die wie eine Gummi-Badeente klingt, kündigt eine Müllsammlerin an, mit ihrem Handwagen durch die Straße zieht. Manche dieser Sammlerinnen sind auf Glas- und Plasikflaschen spezialisiert, manche nehmen jede Art von Müll, einige suchen Reis- und Baustoffsäcke oder Dosen.
Glasflaschen werden an Moped-Tankstellen verkauft, die am Straßenrand Benzin verkaufen, Plastikflaschen können als Wasserbehälter dienen oder verfeuert werden, Baustoffsäcke können mit Beton gefüllt als formbare Mauersteine Verwendung finden und Nahrungsmittelsäcke mit schönen Motiven können in Taschen für Touristen verwandelt werden. Aus Blechdosen kann man Spielzeug machen, das ebenfalls von Touristen gekauft wird.
Phnom Penh hat keine geregelte Müllabfuhr. Die Straßen sind weitgehend abfallfrei.

Recycling I

Wenn Leute mir von ihrem „kaputten“ Leben erzählen, von „Müll“, der sich in ihrer Ehe angesammelt hat oder davon, dass alles, was sie machen, irgendwie „Schrott“ ist, dann rede ich mit ihnen über Recycling.  Ich erzähle ihnen von Abfallsortierung, von Wertstoffhöfen, von der Biotonne und vom Kompost im Garten. In den nächsten Tagen möchte ich dazu ein paar Gedanken veröffentlichen. Auch die folgende Erinnerung handelt von Recycling.

Kampot in Kambodscha. Wir sitzen vor einer Bambushütte.
„Au!“
„Moskito oder Ameise?“
„Ameise.“
Die Insekten sind das einzig Unangenehme an diesem Ort. Wir betrachten die Muscheln und Schnecken, die wir am Strand gesammelt haben.
„Wenn wir die mitnehmen, stinken sie uns die Koffer voll, auf der ganzen Reise bis nach Hause.“
Um eine geruchsfreie Nacht zu verleben, lassen wir die Überreste der Schalentiere  vor der Tür.
Als wir am anderen Morgen vor die Tür treten, sind die Schalen übersät von Ameisen.
Als wir am übernächsten Morgen vor die Tür treten, sind keine Ameisen mehr da.
Als wir am Morgen darauf aufbrechen, nehmen wir die Schalen mit. Kein Hauch eines Geruchs geht von ihnen aus.

Das Monster vom Kartoffelkeller

Wie vielleicht schon zu bemerken war, bin ich aus dem Urlaub zurückgekehrt. Die Zeit in Kambodscha war eindrucksvoll und wäre es wert, in vielen Geschichten erzählt zu werden. In der Zeit habe ich aber auch eine Mail bekommen von einer Blog-Leserin mit einer Geschichte, die gut in diesen Blog passt und die ich mit Erlaubnis der Autorin veröffentlichen darf. Die Geschichte geht so…

Als ich klein war geschah etwas höchst Seltsames. Meine Mama schickte mich in den Keller zum Kartoffeln holen. Das war schon häufiger vorgekommen, doch an diesem einen Tag geschah, wie schon erwähnt, etwas höchst Seltsames -etwas monströses! Schon als ich die Kellertür öffnete überkam mich ein seltsam ängstliches Gefühl, ich knipste schnell das Licht an und wollte die Kartoffeln in die Schüssel lesen, da hörte ich ein Geräusch. Es war ein kratziges, schnaufiges Scharren. Die Schüssel fiel scheppernd zu Boden, als ich aufsprang und aus dem Keller rannte. Oben erzählte ich meiner Mama von dem Geräusch. Sie redete beruhigend auf mich ein und kam mit mir in den Keller, doch dort war alles still. So ging es einige Tage. Immer wenn ich alleine war, vernahm ich das Geräusch, war jemand bei mir, dann war es still. Da nicht immer jemand mit mir in den Keller gehen konnte riet mir meine Mama fortan zu singen, denn der Gesang eines Mädchens könne unheimliche Geräusche vertreiben. Ich versuchte es, aber das Scharren blieb.
Wenige Tage nachdem ich es zum ersten Mal gehört hatte, entdeckte ich die Ursache des Scharrens. In der hintersten Kellerecke, dort wo kein Licht hinfiel, saß ein schauriges Monster mit langen wilden Haaren, drei rot glimmenden Augen, einem gierigen Mund voller kleiner, spitzer, blutgieriger Zähne. Seine Arme waren lang und behaart und an seinen schleimigen Händen waren acht Finger die sich gierig nach mir reckten.
Ich war starr vor Schreck und als die Starre sich löste, rannte ich panisch nach oben, um Mama zu holen. Wie zu erwarten war das Monster jedoch verschwunden, als meine Mama mit mir in den Keller ging.

So wurde es für mich immer schrecklicher, die Kellertreppe hinab zu steigen, denn ich wusste genau worauf das Monster wartete. Auf einen günstigen Moment, um mich zu packen, an sich zu reißen und seine widerlichen Zähne in mein Fleisch zu rammen. Woher ich das wusste, kann ich allerdings nicht sagen.
Die Jahre vergingen. Ich zog in meine erste eigene Wohnung – und das Monster zog dort in den Keller. Auch bei meinen weiteren Umzügen, gelang es dem Unhold stets mir zu folgen und die dunkelste Ecke des Kellers für sich zu beanspruchen.

Doch heute entschloss ich, mich dem Monster zu stellen.

Mit einer für Monster höchst gefährlichen Waffe bezwang ich die Kellertreppe. Ich hörte das kratzige, schnaubige Scharren, sah die schleimigen Hände, die sich nach mir ausstreckten. Todes mutig bewegte ich mich langsam, Schritt für Schritt auf die Ecke zu. Dann stand ich dem Monster gegenüber, so nah wie nie zuvor. Ich konnte seinen nach Verwesung stinkenden Atem riechen. Schon wollte ich mich umdrehen und weg rennen, da spürte ich in meiner Hand die Schwere und Kühle der Monsterwaffe. Ich nahm allen Mut und alle Kraft zusammen hob sie an, richtete sie auf das Monster und drückte ab…..

Das Licht der Taschenlampe durchflutete die Ecke. Sofort begann das Monster vor meinen Augen zu verschwimmen und als sich meine Augen an das helle Licht gewöhnt hatten, war das Monster vollständig verschwunden. Da spürte ich das unwiderstehliche Bedürfnis zu lachen in mir. Erst leise dann immer lauter bahnte sich das Gelächter seinen weg aus meinem Innersten ins Freie und so wurden auch die letzten Reste und Spuren des Monsters aus unserem Keller vertrieben.

So habe ich nach vielen Jahren den Sieg über mein persönliches Monster davongetragen.

(Tamara Peter)

Nägelkauen

Heute hatte ich eine Frau zu Besuch, die sich Gedanken machte, weil ihr Pflegesohn stark an den Nägeln kaut. Er habe von sich aus gesagt, er wolle aufhören, und sie hat ihm ein Mittel besorgt, dass bitter schmeckt und das er sich auf die Nägel streichen kann, um sich das Nägelkauen abzugewöhnen.Aber bald hat der Junge sich an den Geschmack gewöhnt, und er hat weiter gekaut. Sie wollte wissen, was man da machen könne.

Sie erzählte weiter, der Junge lasse sich eher Unrecht tun, als sich zu wehren, und ziehe sich bei jeder Kritik still in sich zurück. Allerdings tue er oft das Gegenteil dessen, was man ihm auftrage. Vielleicht habe es damit zu tun, dass er in seiner Herkunftsfamilie viel beschimpft und schlecht gemacht wurde und oft verprügelt wurde, wenn er sich gegen Vorwürfe oder eine unfreundliche Behandlung wehrte.

Ich habe zu der Frau gesagt, sie solle ihm in der Apotheke ein anderes Fabrikat eines solchen Mittels kaufen und ihm sagen, dass dieses „stärker“ sei. Dann solle sie ihm sagen, sie habe mit einem Therapeuten gesprochen, und der habe ihr gesagt, beide Hände gleichzeitig abgewöhnen sei zu viel auf einmal. Es sei klar gewesen, dass das nicht klappen konnte. Eine Hand auf einmal sei genug.

Dann solle sie ihn auswählen lassen, an welcher Hand er als erstes aufhört, Nägel zu kauen. Sie solle mehrmals fragen, ob er sicher sei, dass dies die Hand ist,  bei der er zuerst aufhören will und sich das versichern lassen. Danach soll sie ihm mitteilen, dass er nicht aufhören dürfe, Nägel zu kauen, sondern jedesmal, wenn er an den Nägeln dieser Hand kaue, müsse er stattdessen auf die andere Hand wechseln und dort kauen. Das sei wichtig. Auf keinen Fall dürfe er schon aufhören, die Nägel der anderen Hand zu kauen, sondern er müsse das Kauen dort noch um die Male vermehren, die er sonst an der anderen Hand gekaut habe.

Wenn er versehentlich doch einmal an die Hand gerate, deren Nägel wachsen sollen,sollte er zum Ausgleich umso mehr die an den Nägeln der anderen Hand kauen.

Ich sagte zu der Frau: Wenn er die Nägel der einen Hand auf diese Weise zum Wachsen bekommt, gehen wir anschließend mit der anderen Hand fingerweise vor: In der ersten Woche kaut er nur noch an vier Fingern, und an den anderen umso mehr,  in der zweiten an drei Fingern, und so weiter.

Wenn der Erfolg an der „schönen“ Hand dagegen zu wünschen übrig lässt, stellen wir fest, die Aufgabe sei noch zu groß, arbeiten daran, dass er zunächst einen Finger ungekaut lassen kann und arbeiten uns von hier aus fingerweise vor.

Anästhesie, kinderleicht

Vor einiger Zeit habe ich erzählt von einem Jungen, der mit fremden Leuten nicht spricht („Der stille Gregor“, 29.12.09, 14.1. und 16.1.10, selektiver Mutismus). Wir schicken uns manchmal E-mails, mal ernsthafte, mal verrückte, und mal beides zugleich. Neulich habe ich von ihm die folgende E-mail erhalten.

Hallo Stefan,

wir mussten zu einer Podologin wegen meiner Mama.Sie kam mit Angst herein. Die Podiologin äh, Podologin hat gesehen, dass sie Angst hat und hat sofort gesagt: „ Sie sind die Frau Xxxxxxxxxxxl“. Das sieht man auf ihrer Stirn.“ Da hat meine Mama gesagt: „Ja“. Meine Mama hat gesagt: „Das ist so ähnlich wie beim Zahnarzt“. Da hat ein Mann gesagt: „Ja, wir bohren auch“. Meine Mama war an der Reihe und ich guckte zu. Die Po. musste etwas aus dem Zeh enfernen. Meine Mama musste an was Lustiges denken. Meine Mama und ich, verzeihuing, äh hoppka, hopppla äh ,hi,hi,hi…………… Also den Satz noch mal von vorne. Meine Mama und ich haben an die Schiffbahn gedacht. Meine Mama erzählte: Die dreht sich, man fährt vorfäörts hoppppppppppppkkkkkkkkkkaaaaaaaaaa vorfährts und rückwärts und seiotlich hoppppppppppplloooooooooooooo seitlich. Die Schiffbahn dreht siuch ähhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh sich. Da sind viele Lichter und ein Sringbrunnen  ähhähähähähähähähäähhähääh Springbrunnen. Mama fragt mich: Gregor, siehst du die Schiffbahn auch??? Ja, nickte ich. Plötzlich sagt die Podologin: Fertig!!! Das war so schade. So schnell war die Schifffahrt zu Ende und es war so schön daran zu denken. Es hat Mama überhaupt nicht weh getan. Die anschließende Behandlung war weiterhin lustig. Mama geht in zwei Wochen wieder hin, dann aber ohne Angst.

VLG

Gregor

Für eine schöne hypnotische Anästhesie braucht man nichts als ein Kind mit viel Fantasie und einem guten Sinn für Quatsch. Im Ernst!

Der Gesang der Sterne

Peter Schneider, ein Freund und Kollege an der Heidelberger Neurologischen Klinik, der an Tinnitus geforscht hat, hat einmal erzählt, dass Robert Schumann seinen Tinnitus als „Musik, von Engeln vorgesungen“ bezeichnet hat. Warum mir das einfällt? Heute Nachmittag hat mir eine Hörgeräteakustikerin die folgende E-Mail geschickt.

Hallo Herr Hammel,

Zum Thema Tinnitus ist mir vorhin etwas eingefallen:

Als ich noch in der Ausbildung war, versorgten wir einen jungen Mann mit Hörgeräten. Er muss Mitte Zwanzig gewesen sein, war jedoch in seiner geistigen Entwicklung etwas zurück. Eines Tages erzählte er uns während einer Anpasssitzung mit vor Begeisterung glänzenden Augen, er sei ein ganz besonderer Mensch, denn ein Engel sei vor langer Zeit, als er noch ein ganz kleiner Junge war, zu ihm gekommen und habe seine Ohren derart verzaubert, dass er von diesem Augenblick an den für fast alle Menschen unhörbaren Gesang der Sterne zu hören vermochte. Er erzählte uns ausführlich über die verschiedenen Klänge der unterschiedlichsten Sterne und dass sie an manchen Tagen lauter und deutlicher und an anderen tagen leiser, fast unhörbar seien. Sonst war er eher introvertiert und sprach sehr wenig, bei diesem Thema jedoch ging er vollkommen auf und begeisterte sich dermaßen, dass diese Begeisterung förmlich aus ihm heraussprühte. Ich war zunächst ein wenig irritiert, begriff dann aber schnell, dass er über seinen Tinnitus sprach.

Als er weg war, sprach ich meine Meisterin darauf an, denn meine Erfahrung mit Tinnitus war bis dahin eher theoretischer Natur gewesen, dennoch fand ich die Einstellung des Mannes spontan bewundernswert und es interessierte mich sehr, was ihn auf diese Geschichte gebracht haben könnte. Meine Meisterin entgegnete mir ziemlich barsch, diesen „Müll“ habe die Mutter des Mannes dem „armen“ Jungen eingeredet und sie verstehe nicht, weshalb die Mutter ihm nicht klar und deutlich erklären würde, um was es sich bei den Geräuschen in seinem Kopf in Wirklichkeit handle. Ich war vollständig anderer Meinung, wagte mich aber nicht, diese ihr gegenüber zu äußern.  Ich dachte noch oft über diese Geschichte nach, dabei fiel mir auch wieder ein Lehrer von mir ein, der uns in einer Unterrichtsstunde einmal eine Komposition vorspielte in welcher die Planeten unseres Sonnensystems und die Sonne vertont worden waren‚“.  Irgendwann begann ich die Geschichte  meinen Kunden zu erzählen, wenn sie über Tinnitus klagen, und vielleicht konnte ich dem ein oder andern damit auch zumindest ein bisschen helfen … und manchmal denke ich: „Wer von uns kann eigentlich mit Bestimmtheit sagen, den Gesang der Sterne könne niemand von uns hören?“

(Tamara Peter)

Die Klinke ölen

Heute habe ich mit einem Freund telefoniert, der Arzt ist. Er hat mir folgende kleine Geschichte erzählt:

„Ich hatte eine Frau in Behandlung, die Arthrose in den Daumen hatte. Nach einer homöopathischen Behandlung mit ‚Teufelskralle‘ war der eine Daumen schon viel besser, der andere aber war noch recht unbeweglich und schmerzte bei jedem Bewegungsversuch. Ich gab ihr noch eine homöopathische Spritze und ging mit zur Tür, um die Frau zu verabschieden. Die Türklinke quietschte schrecklich. Das tat sie schon lange, aber diesmal störte es mich aus irgendeinem Grund. Während wir noch im Gespräch waren, holte ich einen Spray für die Tür. Ich sprühte das Gelenk der Klinke ein und bewegte die Klinke mehrmals hin und her. Während ich das tat, fiel mir auf, dass die Frau ihren Daumen gleichzeitig ebenfalls hin und her bewegte. Das hat mich fasziniert. ‚Gucken Sie mal, Ihr Daumen ist genau wie die Türklinke‘, habe ich gesagt. Dann habe ich die Klinke noch einmal bewegt und gesagt: ‚Jetzt quietscht es nicht mehr.‘ ‚Ja, und es tut auch nicht mehr weh‘, sagte die Frau und bewegte ihren Daumen hin und her.“

Vorankommen

Diese Geschichte habe ich vor vielen Jahren entwickelt, als ich frustriert war, dass ein Projekt sich nicht voran, sondern, wie es schien, sogar rückwärts entwickelte. Das lag wohl daran, dass ich vor lauter anderen Beschäftigungen nicht die Zeit und Energie fand, daran konsequent zu arbeiten. Aber je mehr das Projekt vor sich hin stagnierte, desto geringer wurde auch die Motivation, einen neuen Anfang zu machen. Schließlich nahm ich mir vor, nur noch wenig an dem Projekt zu arbeiten, und dabei nur eine einzige kleine Regel streng zu beachten…

Ein Lachs war auf der Reise. Immer stromaufwärts ging sein Weg. Stromschnelle um Stromschnelle hatte er schon überwunden, Stein um Stein übersprungen. Sogar einige Wasserfälle hatte er mit Kraft und Geschick bewältigt. „Jetzt ist es nicht mehr lang“, sagte der Lachs schließlich zu sich selbst. „Ich erinnere mich an diese Stelle noch genau. Auf meinem Hinweg bin ich hier am ersten Abend gleich vorbei gekommen. Ich bin nun groß und stark geworden. In wenigen Stunden sollte ich am Ziel meiner Reise sein.“ Der Lachs vergrößerte noch einmal seine Anstrengungen. Schnell, noch schneller wollte er vorankommen. Doch die Strömung wurde immer stärker. War ihm der Weg flussabwärts kinderleicht gefallen, so schien der Rückweg nun die reinste Qual zu sein. Manchmal war er zu müde, um zu schwimmen, oft fehlte ihm die Konzentration für einen gezielten Sprung, mehrmals galt es die Angeln und Reusen der Lachsfischer zu umschwimmen und einmal gar musste er der Tatze eines hungrigen Bären ausweichen. Immer wieder hielt er jetzt inne, um Kraft zu schöpfen. Der Fluss aber strömte unentwegt zum Meer. Am Abend schließlich stellte der Lachs fest, dass er nicht vorangekommen, sondern sogar noch zurückgetrieben worden war. Traurig und enttäuscht suchte er sich eine geschützte Stelle zwischen zwei Felsblöcken am Ufer. Er dachte nach. „Es muss möglich sein, das Ziel zu erreichen. Andere haben es schließlich vor mir geschafft. Aber wie?“ Da hatte der kluge Fisch eine Idee. „Ich will nicht mehr versuchen, möglichst schnell dort anzukommen, sondern nur noch, überhaupt voran zu kommen. Alles, was ich also jetzt von mir verlange, ist dies: Ich will jetzt jeden Abend etwas näher am Ziel sein als morgens, das aber Tag für Tag. Irgendwann bin ich am Ziel! Wenn ich nur bis zum Abend jedes Mal ein Stück vorankomme, so soll die allerkleinste Strecke mir genügen – und sei es nur einen halben Zoll.“ Von da an fasste der Lachs neuen Mut. An manchen Tagen kam er kaum voran, doch meistens kam er sehr viel weiter, als er erwartete, und wenn es manchmal nicht so war, erinnerte er sich an seinen Vorsatz und war zufrieden. Nach ein paar Wochen hatte er sein Ziel erreicht, einen See nahe der Quelle, wo jener Fluss entsprang. Der Lachs schaute sich um. Noch hatten nur wenige andere Lachse diesen Ort erreicht. Die meisten versuchten noch, in ganz besonders kurzer Zeit am Ziel zu sein.

Am Grund des Flusses

Ab und zu wird jemand mit ins Unglück gezogen und kann dennoch Helfer sein, wenn er kühlen Kopf behält und die Lösung diktiert. Das Motto ist wohl: Hektik vermeiden, autoritär auftreten, nicht lange warten. Und Selbstschutz hat Vorrang: Wenn der andere im Unglück bleibt, rette ich mich trotzdem.

Diese Geschichte hat sich vor Jahren in Heidelberg abgespielt.

Auf einem Parkplatz am Fluss übte ein Fahrlehrer mit seinem Schüler das Einparken. Der Fahrschüler stieß zurück, gab kräftig Gas – und Augenblicke später fanden sich beide auf dem Grund des Flusses wieder. „Ruhig bleiben!“ sagte der Lehrer. „Lass die Tür zu! Schnall dich ab! Drehe das Fenster nur ein ganz kleines bisschen herunter, so dass bloß wenig Wasser auf einmal hereinkommt!“ Langsam füllte sich die Fahrerkabine mit Wasser, während die beiden Menschen am Grund des Flusses warteten. Als ihnen das Wasser bis zum Hals stand, sagte der Lehrer: „Jetzt öffnen wir die Tür und schwimmen nach oben!“ Die Rettung gelang – Lehrer und Schüler überlebten.