Sinngebung

Vor kurzem hatte ich eine Klientin hier zur Hypnose, der es neben einigen körperlichen Beschwerden um die Aufarbeitung verschiedener Verlusterfahrungen ging. Während sie in Trance war, begannen die Glocken der Kirche nebenan zu läuten. Ich erzählte ihr, es seien Abschiedsglocken, die sie dazu riefen, in einem inneren Ritual alte Dinge, die nicht mehr in ihr jetziges Leben passten, loszulassen.

Gleich darauf begannen die Glocken der anderen Konfession zu läuten. Was konnte das nun wiederum bedeuten? „Das sind die Glocken des Neubeginns“, erklärte ich, „die wie bei einer Taufe oder Hochzeit den Anfang ihres neuen Lebens verkünden. Feiern Sie, dass Sie das Alte hinter sich gelassen haben und nun etwas Neues beginnt!“

Ich glaube fest daran, dass alles, was uns begegnet, für etwas Gutes genutzt werden kann. Man braucht nur beständig sein Ziel im Auge haben, während man den vergangenen und aktuellen Ereignissen ihre Bedeutung gibt – die diesem Ziel dient.

Vielleicht ist es wichtig, sich bewusst zu machen: Wir verleihen den Dingen die Bedeutung, die sie dann für uns haben, und wir können uns entscheiden, welche Bedeutung wir ihnen geben. Und wenn wir diese Bedeutung als proklamieren, dann sind wir die Sinngeber für dieses kleine oder große Ereignis, für alle, die die dabei sind.

Die kleine Torte

Gestern habe ich in der Klinik eine Frau getroffen, die zeigte mir nach der Begrüßung einen Butterkeks auf ihrem Nachttisch. „Das ist meine Torte. Ich habe eine Torte bestellt und habe das hier bekommen. Jetzt habe ich beschlossen: Das ist meine Torte.“ Ich war von diesen Sätzen merkwürdig berührt. Mir gefiel die Torte der Frau. Vor meinem inneren Auge sah ich eine kleine Kerze darauf brennen. Erst zuhause fiel mir ein, was mir die Frau danach an erlittenem Unrecht berichtet hatte, und ich verstand, dass sie nicht über das Gebäck, sondern über ihr Leben gesprochen hatte.

Die Fremde

Die Geschichte vom „Antidepressivum“, die ich am Wochenende erzählt habe, hat eine Vorgeschichte, die ich euch nicht vorenthalten möchte. Ich denke nicht, dass ich mit der Frau aus dem Tessin, mit Gott oder dem Schicksal schon quitt wäre. Ich schulde der Menschheit noch einen Gefallen. Aber ich habe versucht, einen Anfang zu machen…

Im vergangenen Sommer machte ich eine Reise rheinaufwärts durch die Schweiz. Ich war allein und war noch nie in der Gegend gewesen. Ich kannte hier keinen Menschen. An einem späten Abend – es war dunkel, regnerisch und sehr neblig – da fuhr ich, vom Norden her kommend, über den Berninapass. Ich hatte Hunger und hoffte, das Gasthaus auf der Passhöhe würde geöffnet sein. Doch dem war nicht so. Nun fuhr ich in unzähligen Kehrwenden auf der anderen Seite die Passstraße hinunter auf der Suche nach einem gastlichen Plätzchen. Tatsächlich fand ich, noch vor der ersten Ortschaft, ein Gasthaus am Straßenrand. Ich trat ein. Das Personal sprach nur italienisch und wir hatten Mühe, uns zu verständigen. Eine Frau um die Fünfzig bot sich als Übersetzerin an. Sie fragte mich, wer ich sei und woher ich komme, und was mich bei Nacht und Nebel hierher führte. „Sie müssen mit mir einen Sekt trinken… Sie müssen diesen Wein hier probieren… die Rechnung bezahle ich…“ Ich verwies auf den Nebel und die ungesicherte Straße. „Sie sind über den Pass gekommen? Das ist zu gefährlich. Es gibt doch einen Tunnel. Ich erkläre Ihnen, wie Sie fahren. Und jetzt trinken Sie mit mir.“ Nach einer Weile des Gesprächs fragte sie: „Möchten Sie nicht etwas essen?“ Und sie bestellte mir ein dreigängiges Menü. „Möchten Sie noch einen Wein dazu?“ „Vielleicht lieber ein Wasser.“ „Un aqua, per favore.“ Die Wirtsleute diskutierten mit ihr, sie schienen sich in irgendeiner Sache uneinig zu sein. Die Frau bestand darauf, auch das Essen und das Wasser für mich zu bezahlen, und zwar noch, bevor es serviert wurde.

„Sehen Sie“, sagte sie dann zu mir. „Ich will nichts von Ihnen. Sie sind ein sympatischer Mensch. Ich mag Sie. Sie kennen meinen Namen nicht und wissen nicht, wo ich wohne. Ich habe Ihnen keine Karte von mir gegeben. Sie wissen nicht, wer ich bin. Ich werde jetzt gehen. Alles was ich von Ihnen möchte, ist, dass Sie im nächsten Jahr einem Menschen das tun, was ich jetzt getan habe.“ Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und verließ das Lokal. „Ist Architektin vom Meraner See, sehr reich“, sagten die Wirtsleute mit abschätziger Miene. „Ihr irrt euch“, dachte ich bei mir. „Das Geld ist euer Thema und nicht ihres. Diese Frau hat andere Gründe.“

Antidepressivum

In der Klinik erzählte mir gestern eine ältere Frau, dass sie immerzu Schmerzen habe, dass sie mutterseelenallein sei und dass sie sterben wolle. Ihr Mann und ihr späterer Lebensgefährte seien verstorben. Sie habe keine Geschwister, keine Kinder und auch sonst niemanden, der sich für sie interessiere. Sie lebe in einem Altenheim und könne das Bett nicht verlassen. Sie sehe keinen Sinn in ihrem Leben mehr. Sie fragte mich, ob ich etwa noch einen Sinn darin sähe.
„Ihr Leben hat auf diese Art wirklich keinen Sinn mehr“, sagte ich. „Sie können ihm aber möglicherweise einen geben. Da draußen sind noch mehr Menschen, die so einsam und unglücklich sind wie Sie. Diese anderen Menschen haben das ebenso wenig verdient. Sie können sich Papier, Schere, Klebstoff, Blumenprospekte und Stifte geben lassen und können Geburtstagskarten basteln und verschicken für diese Leute, denen es genauso geht, wie Ihnen.“ „Wozu?“ war die Antwort. „Das bringt doch nichts. Mir hat noch nie jemand Blumen geschenkt.“ „Sie mögen Blumen gerne, ja?“ fragte ich, und wir unterhielten uns über Blumen. Wenigstens jetzt leuchteten ihre Augen.
Nach einer Weile verabschiedete ich mich. Ich ging zum Blumenladen und kam wieder mit einem Strauß von orangenroten Rosen in verschiedenen Farbtönen. „Das Kraut hier mit den roten Früchten ist Johanniskraut“, erklärte ich. „Das ist ja eigentlich ein Antidepressivum. Die Verkäuferin hat gemeint, vielleicht wirkt es auch, wenn man es anschaut. Wer kann das wissen?“ „Haben Sie mir diese Blumen gekauft?“, fragte die Frau. Ihre Augen leuchten immer mehr. „Sie haben jetzt einen Auftrag“, sage ich. „Zählen Sie die Rosen in diesem Strauß. Wenn Sie zurückkommen in Ihr Altenheim, dann schenken Sie so vielen Menschen eine Rose, wie Rosen in diesem Strauß sind.“ Die Frau wandte ein, sie wisse nicht, wer die Blumen für sie besorgen sollte. „Sie werden einen Weg finden“, sagte ich. „Sie können aber auch Folgendes tun: Wenn Sie sich an den Rosen satt gesehen haben – aber erst, wenn Sie sie lange genug gesehen haben – dann lösen Sie diesen Strauß auf und geben Sie jeder Krankenschwester, der Sie begegnen, eine Rose.“ „Das tue ich“, sagte die Frau und strahlte.

Ausbrüche

Ich bin es gewohnt, bei allem, was mir widerfährt und nicht gefällt, zu fragen: „Wofür kann ich das denn immerhin noch nutzen?“ Nun hatte ich vor einiger Zeit eine Magen-Darmgrippe. Ich wachte morgens auf und wusste: Es war nur eine Frage der Zeit, und ich würde mich übergeben. Mehrmals wahrscheinlich, vielleicht viele Male. Nun also: Wofür kann ich das noch nutzen? Ich widmete jeden Gang zum Bad einer Erfahrung, einer Zeit, einer Person, die mich verletzt hatte. Es waren kraftvolle, befreiende Ausbrüche, die mir in ausgezeichneter Erinnerung geblieben sind.

Das Vermächtnis

Zum Schmerz der Trauer gehört es, dass Vergangenes verloren erscheint, und dass es nicht mehr möglich scheint, dem Verstorbenen etwas an Liebe zurückzuschenken. Der bis dahin stetig sich fortsetzende Kreis von Geben und Nehmen ist unterbrochen; die Hinterbliebenen bleiben gewissermaßen auf ihrer Liebe (und auf ihren Versäumnissen) sitzen und können das empfangene Gute, wie es scheint, nicht mehr erwidern. In diesen Zusammenhang gehört die Vermächtnisintervention. Der Therapeut oder die Therapeutin sagt sinngemäß zu den Trauernden:

Sie haben mir viel Gutes über Ihren verstorbenen Bruder erzählt. Er ist bestimmt ein sehr liebevoller Mensch gewesen. Verstanden habe ich, dass er sehr gut zuhören konnte, dass er geduldig war, dass er sich rührend um seine Angehörigen gekümmert hat, dass er einen besonderen Humor hatte…

Ich habe den Eindruck, dass diese Begabungen auch bei Ihnen vorhanden sind. Vielleicht hat er Sie damit angesteckt. Ganz sicher hat er Ihnen viel gegeben, was Ihnen bleibt. Das ist ein Geschenk, so wie ein Vermächtnis, von dem Sie etwas an einander weiter geben können – jetzt ganz besonders an die anderen, die um ihn trauern. Sie können dieses Gute, was Sie von Ihrem Bruder erhalten haben, an die Menschen weiter geben, die er geliebt hat. Sie können es an Ihre Kinder weitergeben, an Ihre Schüler, an alle Menschen, denen Sie etwas Gutes geben möchten.

Was meinen Sie – ist es in seinem Sinne, wenn Sie das Gute, was er Ihnen geben konnte, so an die anderen weitergeben?
Dann würde er gewissermaßen durch Sie handeln und durch Sie weiter andere beschenken?
Dann handeln sie ja auch in seinem Namen, wenn Sie das Gute tun, was er sonst täte?
Dann geben Sie ihm ja auch etwas zurück, oder nicht?
Denn das, was Sie in seinem Sinne und in seinem Namen tun, das geben Sie auch ihm als Dank zurück. Kann man das so sehen?

Dann hat ihr Bruder noch nicht aufgehört, der Welt etwas zu schenken, und Sie können so noch lange Zeit Ihren Bruder beschenken.

Wozu Freunde?

Mit Herrn Gundolf unterhielt ich mich über eine Frau, die für ihren Mann alle Freunde aufgegeben hatte und die sich fragte, ob sie ihren Mann noch liebte. „Wenn diese Frau sich trennen will, dann braucht sie Freunde“, sagte Herr Gundolf, „sie schafft es sonst nicht“. „Wenn sie bleiben will, dann gilt das Gleiche“, sagte ich.

Bergwanderung

Eine Kollegin hat mir vor ein paar Tagen die folgende Geschichte gemailt.

Eine Frau um die 60, nicht mehr ganz gesund und mobil, nimmt an einer Bergwanderung teil. Dabei sind auch Einheimische. Die „Fremden“ stürmen nun schnellen Schrittes dem Gipfel entgegen. Sie haben es eilig. Die Frau kommt nicht mehr mit. Es ist zu anstrengend für sie. Sie kann ja auch nicht mehr so gut laufen. Aber die Gruppe drängt vorwärts, niemand nimmt Rücksicht auf sie. Traurig fällt sie immer mehr zurück. Da wird sie von einer Einheimischen angesprochen: „Lassen Sie die nur rennen. Die kriegen ja gar nichts mit. Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles.“ Während die Frau nun langsam und in Ihrem Tempo weitergeht, bekommt sie die Schönheiten der Landschaft gezeigt, wird ihr vieles erklärt und erzählt. Und sie erholt sich. Auch sie kommt am Gipfel an. Sicher später, allerdings um vieles reicher.

Wahre Geschichte.