Vom Spinnen des Garns

Bloggen hat ja etwas damit zu tun, Fäden, die zunächst gar nichts miteinander zu tun haben, zu einem Netz zu verspinnen… Geschichtenerzählen auch… Therapie, wie ich meine, auch… Hier ist ein Beitrag, den meine Cousine in ihrem Blog „Kathy’s food trip“ geschrieben hat… vielleicht kommt euch das eine oder andere dain bekannt vor… schaut doch mal rein!

Auf dem Weg zur Hölle

Ich möchte heute gerne eine Geschichte erzählen, die ich mit einem Patienten erlebt habe. Die Namen und andere Einzelheiten sind, wie üblich, geändert.

„Guten Tag Herr Bayer. Was bewegt sie denn zur Zeit?“ fragte ich. „Ich komme in die Hölle“, antwortete er ganz ernst. „Warum kommen Sie denn in die Hölle?“ „Ich habe viel falsch gemacht.“ „Was haben Sie denn zum Beispiel falsch gemacht, wenn ich fragen darf?“ „Ich war faul in der Schule. Ich habe nichts gelernt. Ich habe nichts aus meinem Leben gemacht. Darum komme ich in die Hölle.“

„Ah… und wie ist es dort in der Hölle?“ „Heiß. Da ist Feuer.“ „Mit dem Feuer ist das ja so: In derMitte ist die Glut. Da ist es am heißesten. Drumherum sind die Flammen. Die sind weniger heiß als die Glut, aber auch sehr heiß. Wenn man neben dem Feuer steht, ist es weniger heiß. Man kann einen Meter neben dem Feuer stehen oder zehn Meter oder hundert Meter. Das ist eine Entscheidung, ob man nah am Feuer oder weiter weg stehen möchte. Wo möchten Sie denn stehen?“ „Ich stehe immer da, wo es ganz heiß ist.“

„Woher wissen Sie eigentlich, dass Sie in die Hölle kommen?“ „In Rodalben gab es eine Konferenz von denen aus der anderen Welt, aus dem Jenseits. Da war ich dabei.“ Wann war das denn?“ „Vor 20 Jahren.“ „Und was haben die aus dem Jenseits Ihnen da mitgeteilt?“ „Das war schwer zu verstehen. Die haben ganz undeutlich gesprochen.“ „Wenn die ganz undeutlich gesprochen haben, die aus dem Jenseits, da haben Sie ja ein echtes Problem… das ist ja ganz schwierig für Sie, wenn die sich nicht klar und verständlich ausgedrückt haben. Da könnte es zum Beispiel sein, dass die über einen Herrn Meyer gesprochen haben, und Sie haben ‚Herr Beyer‘ verstanden. Die sagten zum Beispiel ‚Herr Meyer geht in die Hölle!‘ und Sie haben verstanden ‚Herr Beyer geht in die Hölle. Und da laufen Sie seit zwanzig Jahren herum, und vielleicht ab jetzt noch dreißig oder vierzig Jahre, und denken, die müssen zur Hölle und dabei geht in Wirklichkeit nicht Herr Beyer, sondern Herr Meyer zur Hölle! Und Sie machen sich all die Jahre lang die ganzen Sorgen ganz umsonst! Ich finde das nicht richtig, dass die nicht deutlich reden! Sie haben doch einen Anspruch darauf, zu wissen, was aus Ihnen wird! Sonst haben Sie ja den ganzen Kummer für nichts und wieder nichts, bloß weil die Sie nicht richtig informieren!“ Herr Bayer sagte nichts, schaute mich aber die ganze Zeit interessiert an. Es sah so aus, als ob er über etwas Schwieriges nachdächte und noch zu keinem Schluss käme. So fuhr ich fort.“Wissen Sie, wenn mir ein Rechtsanwalt oder Staatsanwalt eine Vorladung zum Gericht schicken würde und das Papier wäre so verschmiert, dass ich nichts lesen könnte, dann bräuchte ich auch nicht zur Verhandlung zu gehen. Da wird jeder Richter  sagen: Diese Art der Vorladung genügt der juristischen Formpflicht nicht. Wer so unklar angeschrieben wird, braucht auch nicht zu kommen.  Oder wenn jemand vom Gericht mich anruft und sagt: „Schuschalalawawa“ und meint,ich müsste so ein undeutliches Gerede verstehen, und das soll eine Vorladung sein, da brauche ich nicht zu erscheinen. Genaus ist das mit dem jüngsten Gericht: Wenn die wollen, das Sie zur Hölle gehen, dann müssen sich deutlich ausdrücken und Sie klar informieren. Sonst brauchen Sie da nicht hin. Wenn Sie nicht einmal sicher wissen können, ob die Beyer oder Meyer oder Dreyer gesagt haben, dann gilt das nicht und Sie brauchen dann auch nicht zur Hölle. Ist das für Sie nachvollziehbar?“

„Wie komme ich denn da jetzt raus?“ fragte der Mann.“Wo raus?“ „Aus dem negativen Denken.“ „Ah. Sie möchten raus aus dem negativen Denken. Die meisten Leute werden Ihnen sagen: Indem Sie positiv denken. Aber durch positives Denken kommen Sie da nicht raus, sondern durch positive Träume. Stellen Sie sich zum Beispiel vor,in Ihrem Leben sieht es so aus wie in einem Bergdorf, wo ein Fluss über die Ufer getreten ist und ganz viel Schlamm und Geröll mit sich gebracht hat. Nach diesem Unglück trifft sich der Gemeinderat mit en Dorfbewohnern, der Feuerwehr und dem Katastrophenschutz und Sie besprechen, was zu tun ist. Als erstes kommen Leute mit Baggern, Raupen und Lastwagen, um das grobe Geröll wegzuschaffen. Können Sie sich das vorstellen?“ „Ja.“ „Genau. Sie können sehen, wie die das alles wegschaffen. Danach kommen Leute mit Schläuchen und Besen. Die schaffen all den Schlamm und Sand aus dem Dorf, den ganzen Dreck, der da von weiter hinten reingekommen ist. Sie können Sehen, wie die das alles ins Tal hinunter spülen. Danach kommt ein Team von Handwerkern. Da kommen Maurer, Gipser, Maler, vielleicht auch Elektriker, Installateure, Stukkateure, Restaurateure… Was stellen Sie sich vor, machen die?“ „Die können Decken einziehen und Zwischenwände mauern.“ „Genau. Was noch?“  „Teppichboden legen. Leitungen verlegen. Vorhangschienen anbringen…“ „Genau. Nach den Handwerkern kommen die Gärtner. Die legen den Park und die Grärten wieder an. Vielleicht kommt noch ein Dorfbrunnen oder eine Dorflinde dazu, um das Dorf noch schöner zu machen, als es vorher war. Und ein Gedenkstein. Kann man sich das vorstellen?“ „Nicht so gut…“ „Na, Sie brauchen sich das noch nicht vorstellen können. Sagen Sie ihrer Seele einen schönen Gruß, dass sie das für Sie macht, so dass Sie sich darum gar nicht zu kümmern brauchen. Danach kommen ganz wichtigen Leute. Das ist das Präventionsteam. Die sorgen dafür, das so etwas nicht mehr wieder vorkommt. Die können zum Beispiel oberhalb des Dorfes den Hang bepflanzen, damit die Wurzeln der Bäume das Erdreich festhalten. Sie können da Mauern und Zäune im Stil von Lawinenzäunen hinbauen. Sie können dem Bach ein tieferes Bett graben, können Staustufen und Rückhaltebecken bauen oder sogar eine Umleitung für das überschüssige Bachwasser konstruieren.“

„Ich glaube, mein Vater hat mich zu sehr geschlagen“, sagte der Mann plötzlich. „Er hat mit mir das Einmaleins gelernt und hat gesagt: ‚Wenn du das jetzt nicht weißt, bekommst du noch mehr Schläge!‘ Ich konnte so nicht lernen.“ „Dann waren Sie vielleicht gar nicht faul. Sie haben nur das Lernen vermieden, um nicht an die Schläge zu denken“, sagte ich. „Ich habe mir in meinem Leben alles kaputt gemacht“, sagte er. Er erzählte, dass es ihm Angst mache, wenn sich jemand über ihn freue oder etwas Gutes zu ihm sage. Ich sagte: „Vielleicht ist das, weil Sie Freundlichkeit und Gewalt früher wie ein Gemisch erlebt haben. Das kam fast gleichzeitig. Und wenn Sie jetzt freundliche Menschen erleben, bekommen Sie Angst vor der Gewalt. Sagen Sie Ihrer Seele bitte einen schönen Gruß, dass Sie nur noch genau diejenigen Menschen zu fürchten brauchen, die Ihnen Gewalt angetan haben, und auch das nur noch in Situationen, die genauso sind wie damals, als das Schlimme passiert ist. Alles andere, können Sie Ihrer Seele sagen, ist zuviel gelernt. “ Dann erzählte ich ihm die Geschichte von einem verfallenen Schloss, das lange vernachlässigt worden war, durch dessen Dach der Regen tropfte und in dem Vandalen ihr Unwesen getrieben hatten – was nichts mit dem Wert des Schlosses zu tun habe, das von Anfang an schön konzipiert gewesen war. Und nun werde das Schloss renoviert. Später erzählte ich ihm von einer verfahrenstechnischen Anlage, mit der man etwa ein Gemisch von Erdbeerquark und Jauche bis zum letzten Molekül vollständig trennen könnte. Ich bat ihn, er möge seiner Seele auszurichten, sie solle mit dem Gemisch von Liebe und Gewalt, das er erfahren habe, dasselbe tun, dann die Gewalt dorthin zurückgeben, wo sie herkam und die Liebe behalten. So fuhr ich fort, auf alles, was er sagte, mit Geschichten zu antworten, die wie Träume seine bisherigen Belastungen und Möglichkeiten, diese loszulassen, in Bilder fasste.

„Der Weg von der Hölle zum Himmel ist weit“, sagte er plötzlich. „Sie haben schon ein gutes Stück zurückgelegt“, erwiderte ich. „Noch nicht so viel.“ „Sie gehen in die richtige Richtung. Der Rest ist eine Frage der Zeit.“ Der Mann erzählte mir daraufhin, wenn er unter Menschen sei, breche zu viel über ihn herein. “ „Kennen Sie diese Sonnenbrillen, die sich automatisch verdunkeln, wenn es zu hell wird?“ fragte ich. „Ja, so eine hatte ich einmal.“ „Wenn Sie unter Leuten sind, stellen Sie sich vor, eine Glaskugel um sich zu haben, die sich so verdunkelt, wenn die Menschen zu freundlich oder auf andere Art anstrengend für Sie sind.“ Er überlegte einen Augenblick. „Ich brauche viel Vertrauen.“

Loslassen

Einmal, als ich ins Krankenhaus zu einem Sterbenden gerufen wurde, war die ganze Familie  um den Mann versammelt: Seine Frau, seine Kinder und Schwiegerkinder, Geschwister und Enkel. Einige der Angehörigen weinten sehr heftig. Der Mann atmete stoßartig, mit langen Pausen. Er sah aus, als ob er schliefe. Wahrscheinlich bekam er Morphium wie viele sterbende Patienten. Was er wohl verstehen mochte, von dem, was da um ihn vorging? In seinem Gesicht konnte ich keine Reaktion erkennen. In das Gebet am Sterbebett fügte ich die Bitte ein, Gott möge dem Sterbenden oder seiner Familie die Fähigkeit schenken, einander loszulassen und Abschied zu nehmen im Wissen um all das Gute, das bleiben wird. Ich sprach einen Segen für den Sterbenden und die Umstehenden. “Loslassen ist so schwer”, ergriff die Tochter des Mannes nach einer kurzen Stille das Wort. “Ich habe gehört, wenn man loslässt, was man liebt, erst dann gehört es einem wirklich”, fügte sie hinzu. Dann schaute sie hinüber zu ihrem Vater und sagte: “Er atmet nicht mehr.”

Seminar: Hypnotherapeutische Stärkung in den letzten Stunden des Lebens

Bei der Jahrestagung der Milton-Erickson-Gesellschaft am 22. – 25. März in Bad Kissingen halte ich einen Workshop zum Thema „Wo keine Heilung möglich ist: Hypnotherapeutische Stärkung in den letzten Stunden des Lebens“. In dem Workshop möchte ich gemeinsam mit den Teilnehmern darüber nachdenken, was wir für Sterbende in den letzten Stunden des Lebens tun können. Meine Berührung mit dem Thema kommt ja eigentlich von einer ganz anderen Seite: Ich bin evangelischer Klinikpfarrer, arbeite unter anderem auf einer Intensivstation und werde natürlich auch manchmal zu Sterbenden und deren Familien gerufen. Oft bete ich mit den Sterbenden und ihren Angehörigen. Im Laufe der Zeit merkt man, wie viele Menschen auf das, was sie hören, reagieren – auch in ihren letzten Lebensminuten, auch im Koma und unter Morphium. Und man findet heraus, dass manche Arten, die Menschen anzusprechen, ihnen anscheinend die Schmerzen lindern, das Atmen leichter machen und ihnen auch das Loslassen erleichtern. Oft erlebe ich, dass Menschen unmittelbar nach dem Gebet sterben.

Fast fünfzig Teilnehmer haben sich zu dem Workshop angemeldet; es scheint ein großes Interesse an dem Thema zu geben. So überlege ich, ob ich dazu einmal an anderer Stelle einmal ein Seminar halte. Für die, die zu dem Kongress gehen oder die sich fragen, wie wir Sterbenden den Abschied leichter machen können, möchte ich hier den Ausschreibungstext wiedergeben.

„Wo keine Heilung möglich ist: Hypnotherapeutische Stärkung in den letzten Stunden des Lebens“

Wie können wir Sterbende und ihre Familien in den letzten Lebensstunden mit Mitteln der Hypnotherapie und Systemik palliativ, psychotherapeutisch und auch spirituell unterstützen? Wie kann ein möglichst umfassender Beistand aussehen? Der Workshop bringt die Bilder- und Wertewelt unserer jahrtausendealten christlich-jüdischen Tradition neu ins Gespräch mit den Möglichkeiten der Hypnotherapie, insbesondere Pacing- und Leading-Strategien, dem Gebrauch von Metaphern und Mehrebenenkommunikation sowie der Utilisation von Werten und Überzeugungen des Sterbenden und seiner Angehörigen. Der Workshop wendet sich ausdrücklich auch an klinisches Personal ohne feste religiöse Überzeugungen.

Insbesondere  befassen wir uns mit den Fragen:

Wie kommunizieren wir mit sterbenden Patienten, die sich verbal wenig oder nicht mehr äußern können?
Wie finden wir Worte und Themen, die für sie von Bedeutung sein können?
Wie können wir nonverbale Reaktionen von Patienten im Koma oder unter Morphiumeinfluss verstehen und gut darauf reagieren?
Wie können wir auf Ängste, Groll, Sorgen und Befürchtungen von Patienten eingehen?
Wie können wir ins Gespräch hypnotherapeutische Interventionen zur Reduzierung von Schmerzen oder Atemproblemen integrieren?
Wie können wir Patienten in einem irreversiblen Stadium des Sterbens helfen, den Kampf zu beenden und „loszulassen“?
Wie können hypnotherapeutische Fertigkeiten und Traditionen wie Zuspruch von Vergebung, Gebet und Segen einander hilfreich sein?
Wie können religiöse Bilder (der gute Hirte, das himmlische Festmahl) auch von religiös eher skeptischen Menschen bzw. für sterbende Menschen ohne starke religiöse Überzeugung genutzt werden?

Der Workshop zeigt mit vielen Fallbeispielen, wie hypnotherapeutische Unterstützung und spirituelle Tradition verbunden werden können, auch ohne sich religiös aus dem Fenster zu lehnen. Bei den Bildern vom himmlischen Fest, vom Heimkommen oder vom guten Hirten darf offen bleiben, ob sie eher als therapeutische Übung, als wohltuende Traumbilder oder als geistliches Geschehen aufgefasst werden. Das werden die im Raum versammelten Menschen, also der Sterbnde, die verschiedenen Angehörigen und die Mitglieder des klinischen Personals wohl dann auch ganz unterschiedlich sehen.

Loslassen

Ich wurde als Pfarrer ins Krankenhaus zu einem Sterbenden gerufen. Die ganze Familie war um den Mann versammelt: Seine Frau, seine Kinder und Schwiegerkinder, Geschwister und Enkel. Einige der Angehörigen weinten sehr heftig. Der Mann atmete stoßartig, mit langen Pausen. Er sah aus, als ob er schliefe. Wahrscheinlich bekam er Morphium wie viele sterbende Patienten. Was er wohl verstehen mochte, von dem, was da um ihn vorging? In seinem Gesicht konnte ich keine Reaktion erkennen. In das Gebet am Sterbebett fügte ich die Bitte ein, Gott möge dem Sterbenden oder seiner Familie die Fähigkeit schenken, einander loszulassen und Abschied zu nehmen im Wissen um all das Gute, das bleiben wird. Ich sprach einen Segen für den Sterbenden und die Umstehenden. „Loslassen ist so schwer“, ergriff die Tochter des Mannes nach einer kurzen Stille das Wort. „Ich habe gehört, wenn man loslässt, was man liebt, erst dann gehört es einem wirklich“, fügte sie hinzu. Dann schaute sie hinüber zu ihrem Vater und sagte: „Er atmet nicht mehr.“

 

Der doppelte Geburtstag

Eine Frau berichtete kürzlich in der Beratung über verschiedene Todesfälle, die sie im Verlauf ihres Lebens zu bewältigen hatte: Ihre Urgroßeltern, weitere Verwandte, mehrere Freunde und Bekannte und ihr Großvater, an dem sie sehr gehangen hatte. „Und dann ist mein Großvater auch noch an meinem Geburtstag gestorben! Jedes Jahr an meinem Geburtstag bin ich traurig.“

„Ich war einmal auf einem Friedhof in Warschau“, sagte ich. „Dort habe ich eine Gruppe von Roma gesehen, die um ein Grab versammelt waren und dort den Geburtstag des Verstorbenen gefeiert haben. Über die Grabplatte hatten sie ein Tischtuch gelegt. Darauf standen Teller, Gläser, Besteck und Kerzenleuchter. Sie hatten alle möglichen Delikatessen dabei, und natürlich auch etwas zu trinken. Ich nehme an, dass sie auch ein Gedeck für den Verstorbenen gerichtet haben. Und ich stelle mir vor, dass auch er ein Glas Wodka bekam und sie mit ihm angestoßen haben. Es war eine Gruppe fröhlicher Leute, die dort auf dem Grab getafelt haben. Wenn die ersten Christen ihre Toten beerdigt haben, haben sie ihnen einen Siegerkranz auf das Grab gelegt und haben mit ihm gefeiert. Für sie war es eine Siegesfeier, aber auch so etwas wie ein Geburtstag – der Geburtstag eines neuen Lebens, des ewigen Lebens. Wenn Ihr Opa an Ihrem Geburtsag gestorben ist, dann deutet nicht sein Todestag Ihren Geburtstag, sondern Ihr Geburtstag erklärt seinen Todestag. Ihr Geburtstag ist sein Todestag, das heißt, der Tag seiner Geburt in ein neues Leben. Ic h möchte Sie daher bitten, dass Sie an Ihrem Geburtstag auch seinen Geburtstag feiern!“

„So habe ich das noch nie gesehen“, sagte die Frau.

 

Gespräche am Sterbebett

Wie spricht man mit Menschen im Koma? Und was kann man zu einem sterbenden Menschen sagen? Grundsätzlich Dinge, deren positive Ausrichtung sofort spürbar ist und die zugleich ehrlich sind. Grundsätzlich Dinge, die den Sterbenden als Lebenden respektieren. Grundsätzlich möchte ich weder so tun, als gäbe es kein Sterben, noch so, als wäre der andere schon nicht mehr da. Grundsätzlich möchte ich so reden, dass es das Mitdenken nicht schwerfällt: Ganz anschaulich, in Bildern, in Tagträumen, und möglichst in Worten, die dem anderen Menschen schon längst etwas bedeuten. Einige Gedanken aus meiner Arbeit als Pfarrer möchte ich hier anfügen.

Vor kurzem wurde ich ins Krankenhaus gerufen, zu einem schwer kranken Mann. Die Ärzte sagten, dass er in den nächsten Tagen oder Wochen sterben werde. Seine Frau, die sehr gläubig war, hatte mich gebeten, zu kommen. Als ich mit den beiden sprach, wurde bald deutlich: Er wollte kein Gebet, das Abschied bedeuten könnte. Er wollte leben. „Verstehen Sie“, sagte er, „Beten ist gut, aber jetzt geht es nicht. Jetzt ist nicht die Zeit. Vielleicht später“, sagte er. Ob ich aus der Ferne um Leben, um ein Wunder für ihn beten sollte, fragte ich. „Das ist gut“, antwortete er.
Am anderen Tag lag er im Koma. Es atmete in kurzen Stößen, und es war zu sehen, dass er im Sterben lag. Ich las ihm den Psalm vom guten Hirten vor, sprach ein Gebet, das Vaterunser und einen Segen. Wenn ich den Eindruck hatte, dass ihm eine Zeile des Psalms gut tat, las ich die Zeile zweimal oder dreimal. Ich las die Zeilen ruhig und mit Pausen vor, und wir hatten den Eindruck, dass darüber auch sein Atem immer ruhiger wurde. Sein Atem folgte meinem, und wenn ich sehr langsam sprach, setzte der Atem manchmal für eine Weile aus, um danach doch wieder ruhig weiterzufließen. Alles, was ihm Kummer oder Angst machen könnte, möge er ablegen, so bat ich ihn, wie an einer Garderobe Gottes. Was mit Schuld oder Vorwürfen zu tun hätte, alle Gedanken, die was ihm nicht gut täten und alles, was er nicht braucht, möge er wie Kleider ablegen bei Gott. Nach diesen Worten von meiner Seite sprach auch seine Frau mit ihm über das Loslassen: Davon, dass Sie ihn nicht festhalte, dass er loslassen dürfe und davon, dass er seine Liebe zu ihr auch von der anderen Seite aus ausdrücken kann. Es scheint mir ganz deutlich so, dass er das hören und für sich annehmen konnte. Etwa eine viertel Stunde später starb er ruhig, ohne Kampf.

Der Tanz der Einhörner

Ich hatte ein sechsjähriges Mädchen in Therapie, das öfter angemerkt hat: „Ich will tot sein.“ Das sagte sie, wenn sie enttäuscht war, weil sie beim Spielen verloren hatte oder weil sie ein Geschenk nicht bekam. Aber man merkte auch, dass sie dabei wirklich sehr, sehr unglücklich war. Todunglücklich, würde das Mädchen vielleicht sagen. Aufs Tot-sein befragt, hat sie erklärt, dass es im Himmel Engel und Einhörner gibt, und die Einhörner sind Pferde, die in den Himmel gekommen sind, und überhaupt ist es im Himmel viel schöner.

Ich habe das Mädchen gefragt, ob ich ihm eine Geschichte erzählen darf. Die Geschichte ging so:

In einem Land, das sich Kamark nennt, gibt es einen Wald, und darin lebt eine Herde Wildpferde. Und unter ihnen lebte ein junges Pferd, das hatte einen großen Wunsch: „Ich möchte gerne die Einhörner sehen.“ Die großen Pferde haben zu dem kleinen Pferd gesagt: Das geht nicht. Die Einhörner leben im Himmel, und da können wir jetzt noch nicht hin, erst später. Das kleine Pferd hat sich damit aber nicht zufrieden gegeben, und als ihm keines von den großen Pferden eine befriedigende Lösung sagen konnte, wie es die Einhörner treffen könnte, da ist es zur Eule gegangen. Die Eule weiß nämlich fast alles. Das Pferd hat dreimal mit dem Huf an dem großen Baum gescharrt, in dem die Eule hoch oben in einer Höhle gewohnt hat. Das ist das Zeichen zwischen den Pferden und der Eule, wenn die Pferde etwas wissen wollen. Die Eule hat rausgeguckt und hat gefragt: „Was ist los, kleines Pferd?“ „Ich will die Einhörner sehen“, hat das Pferd gesagt. „Die Einhörner wohnen im Himmel, da brauchst du ein Flugzeug“, hat die Eule gesagt. „Wie bekomme ich ein Flugzeug?“ Das kleine Pferd ließ nicht locker. Die Eule dachte eine Weile nach und sagte dann: „Ich habe eine Idee. Komm mit mir!“ Die Eule flog los, und das kleine Pferd galoppierte hinter ihr her. „Das wollte ich sowieso schon lange mal machen!“ rief die Eule. Sie flogen quer durch den Wald und aus dem Wald heraus und kamen schließlich zu einem Zoo. Dort flog die Eule hinein. Sie flog zum Zoowärterhaus, guckte dort hinein und wartete, bis der Wärter in eine andere Richtung schaute. Dann flog sie lautlos hinein, nahm in ihren Schnabel einen Schlüssel und flog genauso still und leise wieder heraus, hinüber zum Affenhaus. Sie öffnete den Käfig und ließ den Affen heraus. Setz dich auf das Pferd und halte dich an der Mähne fest!“, rief sie. Der Affe tat, wie ihm geheißen wurde, die Eule flog voraus und das kleine Pferd galoppierte mit dem Affen hinterher. „Wie kann ich euch das nur danken?“ fragte der Affe, als sie schließlich in dem Wald, wo das kleine Pferd wohnte, halt machten. „Bau für das kleine Pferd ein Flugzeug“, sagte die Eule, und bald machte sich der Affe ans Werk. Weiterlesen

Am Grund des Flusses

Ab und zu wird jemand mit ins Unglück gezogen und kann dennoch Helfer sein, wenn er kühlen Kopf behält und die Lösung diktiert. Das Motto ist wohl: Hektik vermeiden, autoritär auftreten, nicht lange warten. Und Selbstschutz hat Vorrang: Wenn der andere im Unglück bleibt, rette ich mich trotzdem.

Diese Geschichte hat sich vor Jahren in Heidelberg abgespielt.

Auf einem Parkplatz am Fluss übte ein Fahrlehrer mit seinem Schüler das Einparken. Der Fahrschüler stieß zurück, gab kräftig Gas – und Augenblicke später fanden sich beide auf dem Grund des Flusses wieder. „Ruhig bleiben!“ sagte der Lehrer. „Lass die Tür zu! Schnall dich ab! Drehe das Fenster nur ein ganz kleines bisschen herunter, so dass bloß wenig Wasser auf einmal hereinkommt!“ Langsam füllte sich die Fahrerkabine mit Wasser, während die beiden Menschen am Grund des Flusses warteten. Als ihnen das Wasser bis zum Hals stand, sagte der Lehrer: „Jetzt öffnen wir die Tür und schwimmen nach oben!“ Die Rettung gelang – Lehrer und Schüler überlebten.

Fast zu spät und nicht zu früh

Aus dem Artikel „Dringend“ vom 17. Februar hat sich ein Gespräch darüber ergeben, wie man jemandem helfen kann, dem scheinbar nicht zu helfen ist, und wie man dabei verhindern kann, selbst immer tiefer in das Problem hinein gezogen zu werden. Aus diesem Grund schreibe ich in den nächsten Tagen ein paar Gedanken dazu. Ich fange schon mal an.

Ein Rettungsschwimmer sagte zu mir: „Wenn ein Ertrinkender in Panik um sich schlägt, kannst du ihn nicht ans Ufer bringen. Du musst warten, bis er nicht mehr schlägt. Dann kannst du ihn retten.“