Mit Geschichten durch die Krise, Teil 11: Der Mantarochen

Was hat der Flossenschlag des Mantarochens mit uns zu tun, mit unserer Art, zu leben, zu fühlen, zu atmen? Wer genau hinhört, wird in dieser Geschichte vielleicht die Antwort finden…


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Die Geschichte vom Mantarochen findet sich im „Handbuch des Therapeutischen Erzählens“ (Klett-Cotta 2009) auf S. 50.

Borstenmäuse

„Was kann man tun“, fragte jemand, „wenn Wochen nach einer Lungenembolie immer noch Symptome vorhanden sind, die das Atmen beeinträchtigen?“, fragte jemand in einer E-mail.

„Ich hatte vor einigen Jahren eine tiefe Venenthrombose zusammen mit einer
ausgeprägten Lungenembolie“, schrieb ich zurück. „Hypno hin, Hypno her, ich war dankbar für die Medikamente. Eine Lungenembolie zu kurieren braucht Zeit. Ein ganzes Jahr Einnahme von Blutverdünnern scheint ein Richtwert für die Medikation zu sein. Gleichwohl habe ich den Eindruck, dass man beim Abbau der Thromben, bei der Reduzierung der Beschädigung von Venenklappen im Bein und dann auch vorausschauend präventiv mit Suggestion viel erreichen kann. Beweisen lässt sich das wohl nicht, aber meine Phlebologin war immerhin beeindruckt von den guten
Fortschritten bei der Gesundung.

Ich persönlich habe Borstenmäuse durch meine Blutgefäße geschickt, kleine Nager mit einem rauen Fell, die sich rückwärts mit einer kleinen seitlichen Drehung durchs Gefäßsystem bewegen. Dabei stellen sich ihre Borstenhaare auf und schrubben die Venen von innen frei. Die Barthaare der possierlichen Tiere, gehen zuletzt durch den Tunnel und wischen dabei den verbleibenden feinen Staub von den Wänden. Diese
Tiere habe ich zuvor bei Erkältungen eingesetzt um Atemwege freizuräumen. Ich denke, dass sie auch bei einer Embolie hervorragende Dienste leisten.“

Manchmal nehme ich auch einfach eine Zahnbürste, um meine Venenklappen zu reinigen. Ich glaube aber tatsächlich, dass die Borstenmäuse auch bei anderen Erkrankungen, die die Atemwege und die Blutgefäße betreffen, nützlich sind, etwa im Zusammenhang mit einigen Herzerkrankungen. Bei Hirnblutungen und Aneurysmen würde ich womöglich eher Schwammmäuse auf die Reise durch das Gefäßsystem schicken. Aber ich möchte auch zugeben, manchmal ist mir gar nicht nach so etwas zumute. Da bin ich einfach froh über einen guten Arzt und gute Medikamente.

Das Gärtchen

Herr Rech wohnt in Hoppweiler an der Gies. Das liegt bei Eppenbach an der Ried, ganz in der Nähe von Unteralben. Jeden Tag macht sich Herr Rech in seinem kleinen Gärtchen zu schaffen. Er hackt den Boden und recht ihn, er zieht den Löwenzahn heraus, zupft trockene Blätter von den Sonnenblumen und gießt alles, was da wächst. Zwei Nachbarn kommen vorbei. Sie tuscheln miteinander: „Also so einer – hat er denn wirklich nichts Besseres zu tun, als den ganzen Tag Blumen zu gießen?“
Der Gartenfreund hört das. Er sagt sich: „Das muss ich mir nicht nachsagen lassen! Ich habe ja wohl genug anderes zu tun!“ Herr Rech steht nun recht früh auf, stürzt sich in seine Arbeit und macht viele Überstunden. Er ist jetzt rechtschaffen eifrig. Sein Vorgesetzter ist zufrieden. Die schönen Pflanzen in seinem Gärtchen vertrocknen, und nach ein paar Wochen steht der Garten voller Unkraut. Da hört er, wie seine Nachbarn an dem Grundstück vorbeigehen: „Also so einer – lässt alles verkommen. Wie sieht denn das aus? Es ist eine Schande für den ganzen Ort!“
Am nächsten Tag steht Herr Rech ganz früh auf. Er arbeitet fleißig und ohne Pause in seinem Betrieb und bringt abends spät sein Gärtchen in Ordnung. Da hört er, wie seine Nachbarn vorbeikommen: „Also so einer – nun hat er vier Kinder und kümmert sich gar nicht um sie. Seiner Frau hilft er nicht. Schämen sollte er sich!“
Von da an steht Herr Rech noch früher auf. Er arbeitet im Morgengrauen in seinem Gärtchen, arbeitet in seinem Betrieb wie ein Wilder, hilft am Nachmittag seiner Frau, kümmert sich dann um die Kinder. Todmüde fällt er ins Bett.
So geht es eine Zeitlang, bis er eines Morgens nicht mehr aufsteht. Der Arzt stellt den Totenschein aus. „Herzinfarkt“ schreibt er darauf. Am übernächsten Tag ist die Beerdigung. Seine treuen Nachbarn begleiten ihn auf seinem letzten Weg. „Also so einer – was hat er jetzt von seiner vielen Schafferei gehabt?“

Herzstillstand

Auf dem Flur der Psychiatrie sprach mich vor einiger Zeit ein junger Mann an:

„Sind Sie Pfarrer?“
„Ja.“
„Meinen Sie, dass Gott vergibt?“
„Ich meine das schon. Warum fragen Sie?“
„Ich denke, dass Gott mich bald sterben lässt. Meinen Sie, Gott kann mein Herz anhalten?“
„Was meinen Sie denn dazu?“
„Ich habe Angst, dass Gott mein Herz anhält.“
Ich hatte wenig Zeit und vereinbarte ein Gespräch für den übernächsten Tag. Seine Fragen und Aussagen im zweiten Gespräch waren dieselben wie beim ersten Mal, und auch sonst wirkte er auf mich unverändert. Auf meine Nachfragen hin erklärte er:
„Ich habe einen Deal mit Gott, dass ich mit den Drogen aufhöre und er mich dafür leben lässt. Aber ich weiß nicht, ob Gott sich daran hält.“
Ich brachte in Erfahrung, er habe Amphetamine gespritzt und gekifft, und mindestens einmal sei er in einem kritischen Zustand in eine Klinik eingeliefert worden. Seine Freunde seien alle drogenabhängig, von seinen Familienangehörigen erwarte er sich keine Hilfe.
Er erklärte, er sei in eine „große Sache hineingeraten“, in der „Gott eine wichtige Rolle“ spiele. Sein Hauptinteresse bestand darin, zu erfahren, ob Gott ihm vergebe und ihn leben lasse. Mit einem jenseitigen Leben rechnete er nicht, sondern: „Mit dem Tod ist alles aus“.
Ich versuchte, ihn darauf anzusprechen, welche Einflussmöglichkeiten er im Rahmen des Deals habe, doch wir landeten sogleich wieder bei Gottes unergründlichen Plänen. Ob Gott ihm vergibt? Ich erzählte ihm die Geschichte vom verlorenen und wiedergefundenen Sohn, und dass Jesus damit gesagt habe, dass Gott gerade Leuten wie ihm vergibt und ein neues Leben ermöglicht. Er hörte interessiert zu und kehrte dann sofort wieder zu seinem Thema zurück:
„Sterben müssen wir alle, nicht wahr?“
„Ja.“
„Kommt es oft vor, dass Gott bei Leuten in meinem Alter das Herz stehen lässt? Kennen Sie Leute in Ihrem Alter, bei denen das Herz stehen geblieben ist?“
„Nein.“
„Sie kennen niemanden? Kommt das bei jungen Leuten selten vor?“
„Ja.“
„Wie alt sind Sie?“
„Ich bin 42. Wie alt sind Sie eigentlich?“
„23.“
„23 Jahre… Stellen Sie sich die 23 einmal vor, wie eine Zahl auf einer Leinwand. Welche Farbe hat die Zahl?“
„Blau.“
„Hell- oder dunkelblau?“
„Hellblau.“
„Schön. Stellen Sie sich die hellblaue 23 einmal auf einem Grabstein vor. Welche Farbe hat der Stein.“
„Braun.“
„Schön. Eine hellblaue 23 auf einem braunen Grabstein. Stellen Sie sich einmal vor, wie die Zahlen 2 und 3 auf dem Grabstein umeinander kreisen, und schließlich bleiben sie stehen, mit der 3 vorne. Welche Zahl steht auf dem Grabstein?“
„Eine 32.“
„Wollen Sie lieber den Grabstein mit der 23 oder den mit der 32?“
„32 ist besser!“
„O.k. Jetzt lassen Sie die 3 mal vorne rund zusammenwachsen, so dass das obere und untere Ende eine Kurve nach innen machen und sich bei dem mittleren Arm treffen. Welche Zahl haben Sie jetzt?“
„82.“
„Genau. Ist das noch besser?“
„Viel besser.“
„Jetzt haben Sie einen Grabstein, da steht drauf „82“. Vielleicht schreiben wir noch Ihren Namen drauf. Wie heißen Sie?“
„Thorsten.“
„O.k. Auf dem Grabstein steht: ‘82 – Thorsten’. Vielleicht können wir noch drauf schreiben: ‘Gestorben an Herztod’. Was meinen Sie?“
„Das ist gut.“
„82 – Thorsten – gestorben an Herztod. Oder: Wir trauern um Thorsten, 82, gestorben an Herztod. Vielleicht sollen wir noch schreiben ‘Gott ist gnädig’ – oder ‘Wir danken Gott’?“
„‘Wir danken Gott’ ist gut.“
„Also, auf dem Grabstein steht in hellblau: „82 – Thorsten – Gestorben an Herztod – Wir danken Gott. Möchten Sie Blumen auf dem Grab?“
„Ja.“
„Welche Farbe?“
„Das ist egal.“
„Also, es ist ein brauner Grabstein, und darauf steht in hellblau: ‘82 – Thorsten – Gestorben an Herztod – Wir danken Gott’, und auf dem Grab sind Blumen. Ist das gut so?“
„Ja, das ist gut.“
„In Ordnung. Sie brauchen das Grab später noch. Bis dahin können Sie auf dem Friedhof spazieren gehen, oder auch außerhalb. Ist das für Sie in Ordnung?“
„Ja. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich jetzt eine rauchen gehe?“
„Das ist in Ordnung.“
„Vielen Dank für das Gespräch!“

Spielend I

Ein Saxophonlehrer fragte seinen Schüler: „Welche Kraft brauchst du, um eine Klappe zu schließen? Nimm diese Kraft, mehr nicht.“

(S. Hammel, Handbuch des therapeutischen Erzählens. Geschichten und Metaphern in Psychotherapie, Kind- und Familientherapie, Heilkunde, Coaching und Supervision. Klett-Cotta, Stuttgart 2009)

Schießübung

Als ich ein Kind war, hat mir mein Großvater die folgende Geschichte erzählt:

„Zur Vorbereitung auf den Krieg machten wir Schießübungen. Einige Kameraden schossen so oft wie möglich ins Schwarze. Sie kamen an die Front. Die meisten von ihnen starben. Andere Kameraden schossen absichtlich daneben. Sie überlebten den Krieg.“

Ich erzähle die Geschichte manchmal Leuten, die sich durch ihr berufliches Engagement möglicherweise selber schaden. Man kann sie auch Menschen erzählen, die sich ritzen, und ebenso Leuten, die auf andere Art sich oder andere verletzen – körperlich oder seelisch. Dann enthält die Geschichte die Aufforderung an das Unbewusste, die längst bestehende Ambivalenz zwischen Verletzen und Nicht-Verletzen so zu regeln, dass man – wenn überhaupt – nur dem Anschein nach verletzt, ohne die Absicht zu verfolgen, zu treffen. In einigen Mobbingsituationen ergibt die Geschichte ebenfalls viel Sinn.

Vom Segen der Überarbeitung

Oft habe ich mich gefragt, warum einige Menschen pausenlos hektisch erscheinen und stets einen dicht gefüllten Schreibtisch und Kalender haben und immer wieder von Überarbeitung reden, und doch im Ergebnis nicht mehr leisten als andere, denen Zeit für Pausen und Erholung übrig bleibt.
Es scheint so, dass Überarbeitung ein guter Schutz ist. Zum einen macht das Herumwirbeln einen äußerst wichtigen Eindruck – wer so am Schaffen ist, wirkt geradezu unentbehrlich. Wer überarbeitet ist und schon klagen muss über die Last des Geleisteten, dem wird man leichter ein paar Fehler nachsehen. Er darf hoffen, als bewunderns- oder bedauernswert betrachtet zu werden. Wenn ein solcher Mensch mit seiner Arbeit nie ganz fertig wird, wird sie womöglich dann an andere weitergeleitet. Zumindest kann er erwarten, von neuen Aufträgen abgeschirmt zu werden. Im Laufe der Zeit wird sein Aufgabengebiet immer enger beschrieben werden oder zumindest dürften nicht viele neue Aufgaben hinzukommen. Andererseits wird er dafür sorgen, dass ihm nicht zu viel Arbeit abgenommen wird, so dass ihm die Vorteile der Überlastung womöglich abhanden kämen. Wenn Entlassungen drohen, wird ein Mensch, dessen Arbeit schon wegen ihrer Menge ins Auge fällt, gern für unabkömmlich gehalten. Doch auch als Selbständiger oder als Beamter bleibt ihm das gute Gewissen, alles Leistbare getan und gewiss nichts versäumt zu haben, indem er die verfügbare Zeit möglichst restlos mit seinen Tätigkeiten gefüllt hat.
Wie viele Nachteile hätte es aber, dasselbe Ergebnis in kürzerer Zeit zu erreichen und sich womöglich zwischendurch ein wenig auszuruhen oder Konzepte auszuarbeiten, wie die Arbeit noch entspannter noch effektiver geleistet werden könnte. Da blieben Neid und Anfeindungen nicht aus! Doch schlimmer wäre der Kampf des Gewissens mit jener unheilvollen inneren Stimme: „Wer Pausen macht, ist faul.“ Ich bin überzeugt: Wer möglichst entspannt und mit dem geringsten Aufwand viel erreichen will, der braucht eine große Portion Charakter.

S. Hammel, Der Grashalm in der Wüste, S. 29.

Bergwanderung

Eine Kollegin hat mir vor ein paar Tagen die folgende Geschichte gemailt.

Eine Frau um die 60, nicht mehr ganz gesund und mobil, nimmt an einer Bergwanderung teil. Dabei sind auch Einheimische. Die „Fremden“ stürmen nun schnellen Schrittes dem Gipfel entgegen. Sie haben es eilig. Die Frau kommt nicht mehr mit. Es ist zu anstrengend für sie. Sie kann ja auch nicht mehr so gut laufen. Aber die Gruppe drängt vorwärts, niemand nimmt Rücksicht auf sie. Traurig fällt sie immer mehr zurück. Da wird sie von einer Einheimischen angesprochen: „Lassen Sie die nur rennen. Die kriegen ja gar nichts mit. Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles.“ Während die Frau nun langsam und in Ihrem Tempo weitergeht, bekommt sie die Schönheiten der Landschaft gezeigt, wird ihr vieles erklärt und erzählt. Und sie erholt sich. Auch sie kommt am Gipfel an. Sicher später, allerdings um vieles reicher.

Wahre Geschichte.