Das ausgewechselte Gedächtnis

Ein Freund erzählte mir neulich, er habe früher ein ausgezeichnetes Gedächtnis gehabt, jetzt aber sei sein Gedächtnis schlecht geworden. Beispielsweise habe er früher einmal ein Lied verfasst, das er gerne wieder einmal singen wolle, aber er habe den größten Teil des Liedes vergessen.

Ich laberte ihn mit einem Vortrag über sein Gedächtnis in Trance. Sinngemäß sagte ich zu ihm: „Wenn du früher einmal ein gutes Gedächtnis hattest, dann hast du es auch jetzt. Du hast nur gerade keinen Zugang dazu. Das liegt wahrscheinlich daran, dass du behauptest, kein gutes Gedächtnis zu haben, so dass du glaubst es sei so, so dass es auf einer oberflächlichen Ebene tatsächlich so ist. Wenn du dir stattdessen Geschichten darüber erzählst, wie gut dein Gedächtnis ist, wirst du innerhalb von Minuten bemerken können, dass dein Gedächtnis besser wird. Tatsächlich ist dein Gedächtnis immer gut, wenn es dir wichtig ist, dich zu erinnern. Wenn es scheinbar nicht gut ist, dann ist es dir nur gerade nicht wichtig, dich an etwas zu erinnern – oder es ist dir eine Zeitlang nicht wichtig gewesen, dich zu erinnern, und danach hast du deine Meinung darüber geändert, und es ist dir erst später wieder wichtig geworden. Du kannst das Gedächtnis für dieses Lied aber wiedergewinnen. Schreib einfach die Zeilen und Fragmente auf, die du noch weißt, in der Reihenfolge, die du am ehesten für richtig hältst. Dann beschäftigt sich dein Unbewusstes nur noch mit den Zeilen, die noch fehlen, und es hat seine Brückenpfeiler gebaut von den Zeilen, die du schon bewusst weißt zu denen, die du noch finden willst. Das ist wie ein Puzzle, das immer leichter zu lösen ist, je mehr Teile du schon gefünden und ineinandergefügt hast.

Der Freund sagte: Das probiere ich aus. Er suchte sich Stift und Papier und begann zu schreiben. Nach fünf Minuten nahm er seine Gitarre und sang das ganze Lied.

Frage und Antwort

Im Buch Milindapanha findet sich der folgende Dialog. Für Therapeuten zeigt er, wie man in der Therapie mit Doppelbindungen umgeht. Für alle anderen ist er einfach nur schön… 😉

König Milinda zu Meister Nagasena: „Ich würde gerne eine Frage stellen, würdest du sie beantworten?“
Nagasena: „Stell deine Frage!“
König: „Ich habe sie schon gestellt.“
Nagasena: „Ich habe sie schon beantwortet.“
König: „Was hast du geantwortet?“
Nagasena: „Was hast du gefragt?“
König: „Ich habe nichts gefragt.“
Nagasena: „Ich habe nichts geantwortet.

Haushaltsgegenstände erziehen

Heute hatte ich eine Frau in Therapie, die sagte, sie bekomme so leicht Zornausbrüche, sie sei für ihre Familie praktisch unberechenbar. Sie ist Erzieherin, und ich weiß, dass Sie ihren eigenen Sohn recht anspruchsvoll und konsequent erzieht. Ich bat sie um Beispiele für ihr Problem. „Es kommt vor“, sagte sie, „wenn ich den Mülleimerdeckel nicht beim ersten Mal auf den Eimer bekomme, dann schleudere ich ihn vor Wut in die Ecke. Oder ich stelle einen Besen an die Wand, und er fällt um. Das macht mich wütend. Oder wenn mit dem Staubsauger irgendetwas ist, dann raste ich aus.“ „Warum macht denn der Mülleimer das mit Ihnen, dass er Sie den Deckel nicht draufbekommen lässt?“, fragte ich. „Will der, dass Sie dumm aussehen?“ „Ja, unfähig und zu blöde, um einen Deckel auf den Mülleimer zu bekommen.“ „Dann erreicht er ja bei Ihnen genau sein Ziel, wenn Sie den Deckel in die Ecke schleudern. Da kann sich der Mülleimer ja freuen, dann hat er’s wirklich hingekriegt, Sie unfähig aussehen zu lassen. Es gab mal einen Perserkönig, der ließ das Meer auspeitschen, nachdem er ein paar Schiffe in einem Sturm verloren hatte. Er hat das Meer gezüchtigt, damit es so etwas nicht wieder tut. Das finde ich vernünftig. Nicht wegen dem Meer, sondern weil der König damit aus seiner Hilflosigkeit in eine handelnde Haltung zurückgefunden hat. Ich denke, es wird Zeit, dass Sie Ihren Mülleimer erziehen. Sie können ihm den Deckel zum Beispiel ganz langsam und genüsslich aufsetzen, so dass er sich lange mit seiner eigenen Wehrlosigkeit beschäftigen kann, und merkt, dass er es nicht hinkriegt, Sie am Deckel-draufsetzen zu hindern. Sie können ihn aber auch zur Strafe einmal eine Stunde ganz ohne Deckel sein lassen, bis es ihm peinlich wird, dass er riecht und er Sie regelrecht um den Deckel bittet. Genauso maßregeln Sie den Staubsauger. Es geht nicht an, dass er über Sie bestimmt. Lassen Sie ihn merken, dass es sich für ihn nicht lohnt, Sie von der Arbeit abzuhalten. Sie haben das Sagen. Den Besen können Sie in eine Ecke stellen, damit er sich besinnt, was er getan hat. Wenn Sie meinen, dass er sich genug Gedanken gemacht hat und sich wahrscheinlich besser verhalten wird, dann können Sie ihn in den Arm nehmen und sich mit ihm aussöhnen und ihm sagen, dass Sie es jetzt nochmal miteinander probieren…“

Die Fremde

Die Geschichte vom „Antidepressivum“, die ich am Wochenende erzählt habe, hat eine Vorgeschichte, die ich euch nicht vorenthalten möchte. Ich denke nicht, dass ich mit der Frau aus dem Tessin, mit Gott oder dem Schicksal schon quitt wäre. Ich schulde der Menschheit noch einen Gefallen. Aber ich habe versucht, einen Anfang zu machen…

Im vergangenen Sommer machte ich eine Reise rheinaufwärts durch die Schweiz. Ich war allein und war noch nie in der Gegend gewesen. Ich kannte hier keinen Menschen. An einem späten Abend – es war dunkel, regnerisch und sehr neblig – da fuhr ich, vom Norden her kommend, über den Berninapass. Ich hatte Hunger und hoffte, das Gasthaus auf der Passhöhe würde geöffnet sein. Doch dem war nicht so. Nun fuhr ich in unzähligen Kehrwenden auf der anderen Seite die Passstraße hinunter auf der Suche nach einem gastlichen Plätzchen. Tatsächlich fand ich, noch vor der ersten Ortschaft, ein Gasthaus am Straßenrand. Ich trat ein. Das Personal sprach nur italienisch und wir hatten Mühe, uns zu verständigen. Eine Frau um die Fünfzig bot sich als Übersetzerin an. Sie fragte mich, wer ich sei und woher ich komme, und was mich bei Nacht und Nebel hierher führte. „Sie müssen mit mir einen Sekt trinken… Sie müssen diesen Wein hier probieren… die Rechnung bezahle ich…“ Ich verwies auf den Nebel und die ungesicherte Straße. „Sie sind über den Pass gekommen? Das ist zu gefährlich. Es gibt doch einen Tunnel. Ich erkläre Ihnen, wie Sie fahren. Und jetzt trinken Sie mit mir.“ Nach einer Weile des Gesprächs fragte sie: „Möchten Sie nicht etwas essen?“ Und sie bestellte mir ein dreigängiges Menü. „Möchten Sie noch einen Wein dazu?“ „Vielleicht lieber ein Wasser.“ „Un aqua, per favore.“ Die Wirtsleute diskutierten mit ihr, sie schienen sich in irgendeiner Sache uneinig zu sein. Die Frau bestand darauf, auch das Essen und das Wasser für mich zu bezahlen, und zwar noch, bevor es serviert wurde.

„Sehen Sie“, sagte sie dann zu mir. „Ich will nichts von Ihnen. Sie sind ein sympatischer Mensch. Ich mag Sie. Sie kennen meinen Namen nicht und wissen nicht, wo ich wohne. Ich habe Ihnen keine Karte von mir gegeben. Sie wissen nicht, wer ich bin. Ich werde jetzt gehen. Alles was ich von Ihnen möchte, ist, dass Sie im nächsten Jahr einem Menschen das tun, was ich jetzt getan habe.“ Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und verließ das Lokal. „Ist Architektin vom Meraner See, sehr reich“, sagten die Wirtsleute mit abschätziger Miene. „Ihr irrt euch“, dachte ich bei mir. „Das Geld ist euer Thema und nicht ihres. Diese Frau hat andere Gründe.“

Körper, Psyche, Geist

Ein Theologe hat mich vor ein paar Tagen nach psychosomatischen Krankheiten gefragt. Was ist der Unterschied zwischen Körper und Psyche und Geist? Zu unterscheiden ist ja zwischen einem spirituellen und einem medizinisch-psychologischen Geistbegriff. Aber letztlich könnte sogar beides zusammenfallen. Ich habe dem Kollegen sinngemäß geantwortet:

Alle Psyche ist Teil des Körpers. Sie beruht auf der Wahrnehmung mit Augen, Ohren, Körpergefühl und allen Sinnen und auf der Verknüpfung der wahrgenommenen Inhalte zu einem komplexen System. Sie beruht auf einem Wechsel der Aufmerksamkeitsfokussierung zwischen aktueller, erinnerter und vorgestellter Wahrnehmung, das heißt, zwischen außen und innen, Wachheit und Trance, momentan erzeugter, erinnerter, erwarteter und beliebig konstruierter Wahrnehmung. Emotionen sind eine Verschmelzung von Körpergefühl mit imaginativen Wahrnehmungen und deren gedanklicher Verknüpfung.

Man kann aber auch umgekehrt sagen: Aller Körper ist Teil der Psyche, oder vielleicht sollte man hier sagen: des Geistes. (Allerdings ist es schwer möglich, hier zwischen Psyche und Geist zu unterscheiden.) Was wir vom Körper wissen, wissen wir durch den Geist. Wenn der Geist sich irrt, gibt es den Körper nicht, oder es gibt ihn ganz anders, als wir ihn erleben. Und wenn die Konstruktion, die der Geist vom Körper schafft, nur eine von Millionen Möglichkeiten ist, dann ist auch das, was wir über unsere körperliche Existenz meinen, nur eine von Millionen Arten möglicher Wirklichkeit.

Das Vermächtnis

Zum Schmerz der Trauer gehört es, dass Vergangenes verloren erscheint, und dass es nicht mehr möglich scheint, dem Verstorbenen etwas an Liebe zurückzuschenken. Der bis dahin stetig sich fortsetzende Kreis von Geben und Nehmen ist unterbrochen; die Hinterbliebenen bleiben gewissermaßen auf ihrer Liebe (und auf ihren Versäumnissen) sitzen und können das empfangene Gute, wie es scheint, nicht mehr erwidern. In diesen Zusammenhang gehört die Vermächtnisintervention. Der Therapeut oder die Therapeutin sagt sinngemäß zu den Trauernden:

Sie haben mir viel Gutes über Ihren verstorbenen Bruder erzählt. Er ist bestimmt ein sehr liebevoller Mensch gewesen. Verstanden habe ich, dass er sehr gut zuhören konnte, dass er geduldig war, dass er sich rührend um seine Angehörigen gekümmert hat, dass er einen besonderen Humor hatte…

Ich habe den Eindruck, dass diese Begabungen auch bei Ihnen vorhanden sind. Vielleicht hat er Sie damit angesteckt. Ganz sicher hat er Ihnen viel gegeben, was Ihnen bleibt. Das ist ein Geschenk, so wie ein Vermächtnis, von dem Sie etwas an einander weiter geben können – jetzt ganz besonders an die anderen, die um ihn trauern. Sie können dieses Gute, was Sie von Ihrem Bruder erhalten haben, an die Menschen weiter geben, die er geliebt hat. Sie können es an Ihre Kinder weitergeben, an Ihre Schüler, an alle Menschen, denen Sie etwas Gutes geben möchten.

Was meinen Sie – ist es in seinem Sinne, wenn Sie das Gute, was er Ihnen geben konnte, so an die anderen weitergeben?
Dann würde er gewissermaßen durch Sie handeln und durch Sie weiter andere beschenken?
Dann handeln sie ja auch in seinem Namen, wenn Sie das Gute tun, was er sonst täte?
Dann geben Sie ihm ja auch etwas zurück, oder nicht?
Denn das, was Sie in seinem Sinne und in seinem Namen tun, das geben Sie auch ihm als Dank zurück. Kann man das so sehen?

Dann hat ihr Bruder noch nicht aufgehört, der Welt etwas zu schenken, und Sie können so noch lange Zeit Ihren Bruder beschenken.

Nichts

Gestern sprach mich ein Bekannter in einer E-Mail auf die logische Wirklichkeit oder Unwirklichkeit von „Nichts“ an. So habe ich mir meine Gedanken über „Nichts gemacht. Einige davon möchte ich mit euch teilen.

In der systemischen Therapie fragen die Therapeuten öfter: „Was tun Sie, wenn Sie ’nichts‘ tun?“ Und sie bestehen darauf, zu erfahren: „Was sehen, hören, fühlen, denken Sie dann? Wie würde ein anderer Sie beschreiben, der Sie erlebt in einer Phase, in der sie sagen würden, dass Sie ’nichts‘ tun?“ Ermittelt wird also, was jemand stattdessen tut, wenn er „nichts“ tut. Es handelt sich also um ein ähnliches Phänomen wie das von Paul Watzlawick beschriebene: „Man kann nicht nicht kommunízieren“.

Eine Sicht ist, dass „Nichts“ ein Konstrukt ist, das übersieht, dass die Abwesenheit einer Sache oder Tat immer die Anwesenheit einer anderen impliziert. Wenn es gelingt, die Sache oder Tat zu beschreiben, die dann stattdessen da ist, ist oft viel gewonnen.

Also müssten wir sagen, Weiterlesen

Amstetten

Was ich als Therapeut und Pfarrer zu dem Fall von Amstetten meine, hat mich jemand in einer Mail gefragt. Meine Antwort ist gewesen:

Ich befasse mich so wenig wie möglich mit dem Fall. Ich weiß nur das darüber, was sich nicht vermeiden ließ. Ich kann nicht erkennen, was ich dazu Nützliches beitragen könnte. Und ich habe keine Lust, mich da hinein zu steigern. Ich sehe in meinem Alltag als Klinikseelsorger alle Arten von Leuten krank werden und sterben, Gute und weniger Gute, Neugeborene, Jugendliche und Alte. Ich höre von Kriegsverbrechen und Nachkriegsverbrechen, von Massenerschießungen und Einzelmorden und Foltern und Vergewaltigungen, von Bomben und Hinrichtungen. ich höre von sexuellem Missbrauch, von Mordversuchen und Totschlägen, und von psychischer Misshandlung. Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich mit solchen Dingen noch in meiner Freizeit befassen sollte, oder warum ich mich noch darüber wundern sollte.
Als die KZs befreit wurden, haben Gefangene ihre Aufseher totgetrampelt oder erschossen. Sie haben sich so schlecht verhalten wie vorher ihre Wärter. Opfer werden zu Tätern, immerhin kann man es bei jenen noch nachvollziehen. Wenn man nun diesen Mann frei ließe, würden sich viele, viele Menschen finden, die ihn foltern und ermorden würden. Ich habe einige Leute davon träumen hören, einem solchen Menschen das Geschlecht abzuschneiden und ihn qualvoll zu töten. Sie würden sich zufrieden einbilden, sie wären besser als er. Wir alle bilden es uns ein und haben vielleicht nur die bessere Kindheit gehabt. Die Menschen meinen, sie wären für die Opfer eingenommen, in Wirklichkeit sind sie alle nur für ihre eigene Selbstgerechtigkeit. Die Öffentlichkeit braucht die Opfer für ihre eingebildete Güte. Ich halte nichts von dem Rummel um diesen Mann. Jeder sollte zusehen, dass er selbst an seiner Integrität und Liebe zu den Menschen feilt. Es geht bei diesem Rummel nicht um die Opfer, sondern um das Gefühl, selbst über einem solchen Menschen zu stehen. „Jetzt packt das Inzest-Monster aus“ hat die BLÖD-Zeitung getitelt. Dieser Fall macht sehr leicht UNS zu Monstern.

Die Welt, eine Eschertreppe

Wir sehen den Geist als neurologische Leistung, das heißt, als Ergebnis materieller Konstellationen: Geist ist dann das Produkt der Materie und ihrer Gesetze.

Wir sehen ebenso die Materie als geistige Interpretationsleistung, als Konstrukt unseres Geistes: Unser Körper, unser Gehirn und alle Dinge sind dann das Produkt des Wahrnehmens und Interpretierens.

Unsere Gedanken deuten die Gesetze der Natur, die unsere Gedanken hervorbringen, die die Gesetze deuten, die die Gedanken hervorbringen…

Unsere Wahrnehmung bemerkt unseren Körper, der unsere Wahrnehmung hervorbringt, die unseren Körper bemerkt, der unsere Wahrnehmung hervorbringt…

Die Welt, eine Eschertreppe…