Nichts

Gestern sprach mich ein Bekannter in einer E-Mail auf die logische Wirklichkeit oder Unwirklichkeit von „Nichts“ an. So habe ich mir meine Gedanken über „Nichts gemacht. Einige davon möchte ich mit euch teilen.

In der systemischen Therapie fragen die Therapeuten öfter: „Was tun Sie, wenn Sie ’nichts‘ tun?“ Und sie bestehen darauf, zu erfahren: „Was sehen, hören, fühlen, denken Sie dann? Wie würde ein anderer Sie beschreiben, der Sie erlebt in einer Phase, in der sie sagen würden, dass Sie ’nichts‘ tun?“ Ermittelt wird also, was jemand stattdessen tut, wenn er „nichts“ tut. Es handelt sich also um ein ähnliches Phänomen wie das von Paul Watzlawick beschriebene: „Man kann nicht nicht kommunízieren“.

Eine Sicht ist, dass „Nichts“ ein Konstrukt ist, das übersieht, dass die Abwesenheit einer Sache oder Tat immer die Anwesenheit einer anderen impliziert. Wenn es gelingt, die Sache oder Tat zu beschreiben, die dann stattdessen da ist, ist oft viel gewonnen.

Also müssten wir sagen, dass z.B. das „Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom“ ein „Aufmerksamkeit-Woanders-Syndrom“ ist, und schon schließen sich die Fragen an: Die Aufmerksamkeit ist woanders als…? Sie ist wo stattdessen? … Außen oder innen…? Wie lange, und wo dann…? Ich kann ja nicht nicht aufmerksam sein… Aber auch „Woanders“ ist noch eine Beschreibung eines Nichts. Man müsste also unterscheiden: Ist es ein „Aufmerksamkeit-Innen-Syndrom“, ein „Aufmerksamkeit-springt-schnell-Syndrom“ oder ein Aufmerksamkeit-befasst-sich mit-Dingen-die-die-Beurteilenden-nicht-verstehen-Syndrom“?

Ich denke also, wo nichts ist, ist etwas anderes. „Nichts“ beschreibt die Unwissenheit des Betrachters. Oder: „Nichts“ liegt (wie Watzlawick es über die Schönheit sagte) im Auge des Betrachters. Dazu passt, dass der Gebrauch des Wortes „Nichts“ oft damit einhergeht, dass wir die Alternativen noch nicht kennen oder noch nicht beschreiben können. Wenn jemand sagt: „Diese Krankheit ist unheilbar / nicht heilbar“, bedeutet das: „Ich weiß nicht, wie diese Krankheit zu heilen ist und kenne niemanden, von dem ich meine, dass er es wüsste.“ Vielleicht kann ja irgendein Schamane oder Guru einer anderen Heiltradition die Krankheit heilen. „Nicht heilbar“ ist keine Eigenschaft von Krankheiten, sondern beschreibt die Selbsteinschätzung des Behandelnden hinsichtlich der in seinem Kontext bestehenden Möglichkeiten (siehe den Artikel „Lass dich nicht verbaren“).

Das Wort „nicht“ beschreibt also meine Einschätzung von Fähigkeiten und Möglichkeiten, und die enthält üblicherweise „Blinde Flecken“. Unser bisheriger Begriff von „Nicht“ ist statisch: Was nicht ist, ist nicht.
Lohnend wäre es, einen dynamischen Begriff zu entwickeln: Indem wir über „Nichts“ reden, schaffen wir Unmöglichkeiten, in denen sich andere mögliche Wirklichkeiten als die von uns mit „Nichts“ beschriebenen ausbreiten. Wir schaffen einen Unterdruck der Möglichkeiten, in den angrenzende Möglichkeiten eindringen.
Als ob man ein Vakuum erzeugt, in das die Luft aus der Nachbarschaft eindringt. Oder wie auf einer Wetterkarte dargestellt.

Ein behauptetes Nichts ist ein großer Möglichkeitsvernichter, wobei strenggenommen nur die andere (manchmal nicht erwünschte) Möglichkeiten in den erklärten Nichts-Raum eindringen. Tatsächlich entstehen neue Möglichkeiten schon, indem wir „Nichts“ als „Etwas“ behandeln. In der systemischen Therapie und Hypnotherapie kann das so aussehen: „Nehmen Sie mal das „Nichts“ an der Hand und gehen Sie mit ihm in Gedanken spazieren. Zeigen Sie dem Nichts mal die Welt der Möglichkeiten.“ Wir können das „Nichts“ mit ein paar „Was“ an einen Kaffeetisch setzen, oder auch mehrere Nichtse mit mehreren Wassen über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten diskutieren lassen.

Die Frage, ob es „Nichts“ gibt, beruht auf einer echten Paradoxie, ist also scheinlogisch. Paradoxien entstehen, wenn eine Gruppe gleichartiger Phänomene beschrieben werden soll („Alle Kreter sind Lügner“) und das definierende Subjekt (oder die definierende Kategorie) nochmals als Teil der definierten Gruppe auftaucht („Ich, der das sagt, bin ein Kreter“). Ein Paradox entsteht, wenn der Gattungsbegriff gleichzeitig ein Element seiner eigenen Gattung ist, anders gesagt: wenn ein übergeordneter, etwas anderes definierender Begriff gleichzeitig ein Teil des zu Definierenden ist: „Ich habe viele Kinder. Eines davon bin ich“. Die Frage „Gibt es ‚Nichts‘?“ impliziert nämlich die mögliche Antwort, dass es „Nichts“ „nicht“ gibt. Vor der Beantwortung der Frage ist also logisch zu klären, ob der Begriff des „Nichts“ auf das „Nicht“ angewendet werden darf, um „Nicht“ überhaupt erst zu definieren.

Ein Gedanke zu „Nichts

  1. Hallo,

    ich bin heute auf der Suche nach Informationen zum Thema Hypnose/Trance das erste Mal auf diese Seiten gestoßen —
    und was finde ich hier? „Nichts“! 🙂

    Sehr interessant…

    Ich denke, die logische Problematik im Umgang mit diesem Begriff ergibt sich aus dem Hang des Menschen, Dinge „eindeutig“ zuordnen zu wollen: Was „A“ ist, kann
    nicht auch „B“ sein.

    „Nichts“ ist in meinen Augen nur das eine Ende der für jeden Menschen persönlichen Skala an dessen anderem Ende „Alles“ steht und zwischen diesen befindet sich „Etwas“.
    Mit absoluten Begriffen kann der menschliche Kopf nicht so recht etwas anfangen. Weswegen auch in Religionen Gottheiten etc. gerne absolute Eigenschaften zugeschrieben werden („weiß allles, sieht alles“ etc.). Der Konfusion folgt die Suggestibilität. Zen-Koans nutzen dies konstruktiver…

    Aber ich schweife ab…was wollte ich schreiben?… ach ja!
    Ich wollte „Alles“ über „Nichts“ schreiben.

    Die Problematik im Umgang mit solcherlei exklusiven Begriffen liegt im Übergang von der Erlebniswelt des Einen zum Anderen.
    „Dagegen kann man nichts machen!“ heißt übersetzt „Mir ist nichts bekannt, was man dagegen machen kann.“. Nun sagt man soetwas nicht und schon gar nicht in der heutigen Berufswelt und noch weniger in der technisch Ausgerichteten. In dieser geht es ja um die Möglichmachung und nicht um die Unmöglichkeitseingestehung.
    Der Hörer dieser Aussage kennt den Erfahrungshorizont des Sprechenden nicht und ZADENG! wird „Nichts“ (oder auch „Alles“ — sie sind auf logischer Ebene beliebig austauschbar) uminterpetiert.

    Die Frage ist nach der „Existenz von Nichts“ ist somit so sinnfrei, wie die Frage nach der „Existenz von Allem“ — beides setze eine absoulte Kenntnis voraus, die keiner hat (jedenfalls kennt kein Atheist jemanden 😉 )

    Interessantes Nebenprodukt der gedanklichen Beschäftigung mit Paradoxien im Allgemeinen ist für mich immer wieder die Frage, warum der menschliche Geist fähig ist, Gednakenspiele zu ersinnen, die ihn selber zum Bockshorn hinaus jagen. Weiß da der Geist mehr über sich selber, als er sich gestehen will?

    Und nur um noch ein bischen weiter abzuschweifen, weil es gerade so Spaß macht:
    Wie lautet in diesem Zusammenhang die Antwort auf die Frage Isaac Asimovs: „Kann ein Geist einen Mechanismus
    entwerfen, der ihm geistig überlegen ist?“ (in Bezug auf KIs).
    Oder: Ist eine simulierte Intelligenz einer Maschine nur dadurch möglicherweise intelligenter, weil sie dafür gehalten wird?

    „Du kennst die Klang zweier klatschender Hände … welchen Klang erzeugt wohl eine Hand?“

    Herzliche Grüße,
    Meino Cramer

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