Tina

Hier wieder einmal ein Fall aus der Praxis… die Namen und einige Einzelheiten sind, wie üblich, geändert…

Eine Mutter und ihre 16-jährige Tochter Tina kommen in Therapie. Die Frau ist in dritter Ehe verheiratet, Tina stammt aus der zweiten Ehe mit einem Griechen, der in Athen lebt. Sie hat sporadischen Kontakt zum Vater. Tina wurde in kurzer Zeit zwei Mal wegen Schwierigkeiten mit dem Ausbilder vorzeitig aus Lehrverhältnissen entlassen und wurde gegenüber einem anderen Mädchen gewalttätig. Außerdem nennt Tina die Verbesserung der Beziehung zur Mutter als wichtigen Therapieinhalt. Während sie sich von der Mutter oft übersehen und vernachlässigt fühlt, findet diese, dass sich Tina auffallend laut und eindringlich Aufmerksamkeit verschaffe. Mit ihrem Mann, Tinas Stiefvater, könne sie kaum ungestört sein, da Tina dann immer mit irgendeinem Anliegen zu ihnen komme.

Ich erzähle die Geschichte vom lauten Jungen:

„Meine Eltern hören mir nie zu. Sie bemerken mich nicht einmal“, seufzte der Junge. „Er redet ständig und ununterbrochen. Er redet oft und viel. Er unterbricht andere im Gespräch und will selbst nie unterbrochen werden“, erzählten die Eltern. „Je lauter ich war, desto weniger haben sie zugehört“, sagte der Junge später. „Und je weniger sie zuhörten, desto lauter wurde ich.“ Dann wurde er leise und seine Eltern hörten ihm zu.

Dann frage ich, ob es möglich sei, dass die Mutter ihre Aufmerksamkeit geradezu abschalte, wenn Tina ihr zu viel Beachtung fordere und dass Tina gerade dadurch noch mehr Aufmerksamkeit verlange. Beide bejahen dies. Im Weiteren überlegt Tina, dass dasselbe Verhalten gegenüber ihren Ausbildern zu den Problemen bei den Lehrstellen geführt habe und dass sie durch ihr gewalttätiges Verhalten die Aufmerksamkeit ihrer Mutter habe erreichen können. Ich überlege mir, wie gut sie sich wohl in die Position anderer versetzen kann und frage sie, wie eine Schaufensterinschrift angebracht sein muss, damit sie für die Kunden richtigherum zu lesen ist (siehe „Schaufensterkino“). Warum sind die Inschriften von innen betrachtet immer in Spiegelschrift geschrieben? Als „Hausaufgabe“ bitte ich die beiden, sich einmal täglich genau so zu verhalten, wie es der jeweils andere wünscht. Nach fünf Sitzungen sind sich Mutter und Tochter einig, dass die geschilderten Probleme nicht mehr bestehen.

Antworten, die keine sind…

Mit einer Freundin hatte ich vor einiger Zeit das folgende Gespräch. Ich verwende es seitdem, um eine Methode zu illustrieren, wie sie schimpfende, schreiende, hänselnde, sarkastische oder anderweitig verletzende Menschen zum Schweigen bringen können. Die Freundin begann:

„Vorhin hat mich eine Frau angeschrien, weil ich in ihrer Hofeinfahrt gewendet habe.“ „Was hast du geantwortet?“ „Ich habe gesagt: ‚Ich danke Ihnen, denn Sie haben mich traurig gemacht, und darüber bin ich sehr glücklich.’ Dann bin ich gefahren.“

Meine Nichte wiederum erzählte mir: „Heute habe ich den größten Dummschwätzer der Klasse zum Schweigen gebracht“. Ich fragte: „Wie hast du das gemacht“. Sie sagte: „Ich hab ihm geantwortet: ‚Kauf dir’n Regenschirm.‘ Das hat bisher bei jedem geholfen.“

Ich erzählte diese Geschichte einem Bekannten. er sagte: Ich rufe in diesen Fällen immer: „Vögelchen füttern gehen!“

Der amerikanische Psychiater und Hypnotherapeut Milton Erickson stieß einmal an einer Straßenecke mit einem anderen Mann zusammen. Erickson schaute ihn an, schaute auf seine Uhr und sagte steif: „Es ist exakt 14 Uhr 10“, wobei die wirkliche Uhrzeit eine völlig andere war. Dann ging er wortlos weiter. An der nächsten Straßenecke drehte er sich nochmal um und stellte fest, dass der Mann immer noch erstarrt am selben Platz stand.

In seiner Ausbildung kritisierte ein Chefarzt Erickson vor anderen und ließ ihn schlecht dastehen. „Mögen Sie Schnee?“ fragte Erickson den Chef. Als dieser irritiert reagierte, sagte er: „Ja, diese wunderschönen kleinen Kristalle. Wenn der Schnee getaut ist, kommen die Schneeglöckchen. Ich liebe Schneeglöckchen.“ Dem Chef fiel keine Antwort darauf ein, allerdings hatte er auch vergessen, was er vorher gerade sagen wollte.

In England gab es eine Untersuchung darüber, welche Antworten Bankräuber bei Überfällen mit vorgehaltener Pistole in die Flucht geschlagen haben. Dazu gehörten Äußerungen wie: „Dieser Schalter ist geschlossen. Gehen Sie bitte an Schalter 10“ und „Tut mir leid, ich bin noch in der Ausbildung und darf keine Auszahlungen vornehmen.“

Schaufensterkino

Die folgende Geschichte erzähle ich manchmal Jugendlichen, die zwar klug sind, aber sehr auf sich fixiert und darum nicht so sehr sozial orientiert. Nächste Woche möchte ich sie einmal bei einem sechzehnjährigen autistischen Jungen ausprobieren. Mal sehen, was passiert…

Es regnete. Keine Schule heute. Wie jeden Samstagvormittag stand sie hinter der Glastheke, in der die Brötchen, Kuchen und anderen Backwaren zum Verkauf auslagen. Durch das Schaufenster sah sie, wie der Wind die Blätter von den Bäumen fegte und in der Straße verwirbelte. Vor dem Laden kämpfte eine Frau mit ihrem Regenschirm. In dicken Buchstaben stand darüber die Inschrift: ,,Bäckerei Müller“. In Spiegelschrift natürlich, für jemanden, der drinnen stand. Wenn sie alleine war und keine Kunden zu bedienen hatte, stellte sie sich gerne vor, dieses Schaufenster sei eine Kinoleinwand und das, was sie dahinter sah, sei nur ein Film. In ihrer Fantasie veränderte sie dann die Szene. Aus den Autos wurden Kutschen, aus den Blättern Vögel und aus der Frau mit dem Regenschirm zum Beispiel ihre Mutter, wie sie mit einem wilden Drachen kämpfte. Dieses Bild amüsierte sie jetzt ganz besonders. Ihre Mutter, die alles falsch verstand, die ihr das Wort im Mund herumdrehte, die aus Gutem Böses machen konnte und aus böse gut, sie würde wahrscheinlich auch den Kampf gegen einen Drachen bestehen oder mindestens ein ,,Unentschieden“ erreichen. Bis zum nächsten Kampf.
Die Frau mit dem Regenschirm war längst verschwunden. Nun stellte sie sich vor, was sie denn gerne auf diese Schaufensterscheibe schreiben würde, anstatt des langweiligen Schriftzugs: „Bäckerei Müller“. Wie wäre es mit „Du bist mir wichtig“, „Ich mag dich trotzdem“, oder: „Ich ärgere mich, weil ich dich liebe“? Vielleicht auch: „Ich ärgere dich…“. Sie grinste ein wenig bei dem Gedanken. Sie malte sich aus, wie diese Inschriften auf der großen Scheibe wirken würden. Alle, die an der Bäckerei vorübergingen, könnten sie lesen, auch ihre Mutter. Sie sah vor ihrem inneren Auge die Inschrift: „Du bist mir wichtig.“ Ob ihre Mutter sie dann endlich verstehen würde? Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter vor dem Schaufenster stand, die Stirn runzelte und den Kopf schüttelte. Da kam ihr der Gedanke: „Du musst deine Worte in Spiegelschrift anbringen.“

Nasenbluten

Sie trafen sich zufällig an einer Wiese. Der Ältere führte gerade seinen Hund aus, der Jüngere ging spazieren. Sie gingen in denselben Verein und kannten sich von dorther. So kamen sie ins Gespräch. Auf einmal stockte der Ältere. Er zog eine Packung Papiertaschentücher hervor, entnahm ein paar der Zellstofftücher und hielt sie sich vors Gesicht. Seine Nase blutete und wollte damit nicht mehr aufhören. „Darf ich Ihnen zeigen, wie Sie wieder aufhören mit dem Bluten?“ begann der Jüngere. „Schauen Sie sich um. Sehen Sie hier etwas Rotes?“ „Der Baum dort vorne hat rote Beeren“, sagte der Ältere. „Richtig. Blutrote Beeren. Können Sie sich ein Drehventil an einer Wasserleitung in dieser roten Farbe vorstellen?“ „Das kann ich.“ „Ist es eher der rote Drehgriff an einem Wasserhahn oder eher ein blumenförmiges rotes Hauptventil, wie es sie manchmal im Keller gibt?“ „Ein Hauptventil.“ Während sie neben einander standen und sprachen, hatte der Jüngere den Arm in der Luft nach vorne ausgestreckt. Seine Hand machte immerfort eine Bewegung nach rechts, als ob er ein großes Ventil zudrehte. „Sie können Ihre Taschentücher jetzt wieder einstecken“, sagte er.

Ausbrüche

Ich bin es gewohnt, bei allem, was mir widerfährt und nicht gefällt, zu fragen: „Wofür kann ich das denn immerhin noch nutzen?“ Nun hatte ich vor einiger Zeit eine Magen-Darmgrippe. Ich wachte morgens auf und wusste: Es war nur eine Frage der Zeit, und ich würde mich übergeben. Mehrmals wahrscheinlich, vielleicht viele Male. Nun also: Wofür kann ich das noch nutzen? Ich widmete jeden Gang zum Bad einer Erfahrung, einer Zeit, einer Person, die mich verletzt hatte. Es waren kraftvolle, befreiende Ausbrüche, die mir in ausgezeichneter Erinnerung geblieben sind.

Das gute Gel

Ein befreundeter Arzt hat mir erzählt:

„Früher hielt ich nichts von Placebos – bis ich in meiner Praxis einer Patientin ein Schmerzmittel geben wollte und kurz den Raum verließ, um es zu holen. Als ich zurückkehrte, war die Frau ohne Medikament verschwunden. Wochen später kam sie wieder: ‚Könnte ich noch einmal etwas von diesem fantastischen Gel haben?‘ bat sie mich. ‚Was hat sie denn damals mitgenommen?‘, fragte ich die Arzthelferin. ‚Die Kontaktflüssigkeit fürs EKG‘. ‚Dann gib ihr davon etwas mit.'“

Der Kloß im Hals

Vor einiger Zeit hatte ich eine Klientin hier, die litt unter einer diffusen Angst, die sich immer wieder in Panik steigerte – eine sogenannte „generalisierte Angststörung“. Nun beabsichtigte sie, eine größere Reise zu machen – aber die Vorstellung, mit ihrer Angst im Ausland zu sein, steigerte ihre Angst noch mehr. So kam sie in Therapie. Ich bat die Klientin, sich vorzustellen, die Angst wäre eine Struktur ihr gegenüber an der Wand, und sie könnte sie sehen. Es entwickelte sich der folgende (um Redundanz zu vermeiden, etwas gekürzte) Dialog:

„Ich kann das nicht nach draußen projizieren. Es ist wie ein Kloß im Hals.“
„Ein Kloß im Hals? Könnte man den nicht essen? Vielleicht mit Messer und Gabel zerteilen?“
„Nein, er sitzt fest.“
„Ist der Kloß hohl oder gefüllt?“
„Er ist mit Wasser gefüllt.“
„Und außen herum ist eine Haut?“
„Ja.“
„Was passiert, wenn Sie ein Loch in die Haut pieksen dann?“
„Das Wasser fließt weg.“ (Die Klientin beginnt zu weinen.)
„Und fließt wohin?“
„In den Magen.“
„Und dann wird es weiter laufen, bis es irgendwann in einen Bach mündet, und der fließt in einen größeren Bach, und der fließt dann vielleicht in die Nahe, und die fließt in den Rhein, ja?“
„Ja.“
„Und der Rhein fließt ins Meer. Da kommen Sie an Ihren Kloß ja gar nicht mehr heran! Werden Sie Ihn denn dann nicht vermissen?“
„Nein, überhaupt nicht.“
„Und wenn Sie am Meer stehen, werden Sie sich dann nicht wünschen, dass seine Tropfen zu Ihnen zurückkehren?“
„Nein, bestimmt nicht.“
„Ja, aber der Kloß ist vielleicht ganz unglücklich ohne Sie!“
„Das ist mir egal.“
„Aber dann sind Sie Ihren Kloß ja ganz los! Was machen Sie denn so ganz ohne Kloß?“
„Mich freuen.“
„Ja, dann brauchen Sie mich ja jetzt gar nicht mehr. Vermissen Sie die Therapie dann nicht?“
„Das geht schon in Ordnung.“
„Dann müssen wir uns wohl damit abfinden, dass Sie keine Therapie mehr brauchen.“
„Das wird schon klappen…“.

Das Problem, das seit etwa einem dreiviertel Jahr bestanden hatte, war damit aufgehoben.

Nichts

Gestern sprach mich ein Bekannter in einer E-Mail auf die logische Wirklichkeit oder Unwirklichkeit von „Nichts“ an. So habe ich mir meine Gedanken über „Nichts gemacht. Einige davon möchte ich mit euch teilen.

In der systemischen Therapie fragen die Therapeuten öfter: „Was tun Sie, wenn Sie ’nichts‘ tun?“ Und sie bestehen darauf, zu erfahren: „Was sehen, hören, fühlen, denken Sie dann? Wie würde ein anderer Sie beschreiben, der Sie erlebt in einer Phase, in der sie sagen würden, dass Sie ’nichts‘ tun?“ Ermittelt wird also, was jemand stattdessen tut, wenn er „nichts“ tut. Es handelt sich also um ein ähnliches Phänomen wie das von Paul Watzlawick beschriebene: „Man kann nicht nicht kommunízieren“.

Eine Sicht ist, dass „Nichts“ ein Konstrukt ist, das übersieht, dass die Abwesenheit einer Sache oder Tat immer die Anwesenheit einer anderen impliziert. Wenn es gelingt, die Sache oder Tat zu beschreiben, die dann stattdessen da ist, ist oft viel gewonnen.

Also müssten wir sagen, Weiterlesen

Das sich selbst auflösende Symptom

„Ich habe eine seltsame Beobachtung gemacht“, so erzählte ich dem Mann am Telefon. „Vor einiger Zeit nämlich sagte ein Kollege zu mir: ‚Wenn ich ein telefonisches Vorgespräch wegen einer Therapie führe, dann sage ich oft zu den Leuten: Ein bekannter Therapeut hat beobachtet, dass die meisten Klienten bereits eine Verbesserung ihrer Probleme in der Zeit zwischen dem telefonischen Vorgespräch und der ersten Therapiestunde erleben. Ich stelle fest, dass bei etwa 70 – 80% der Klienten bereits bis zur ersten Therapiestunde eine Verbesserung eintritt. Ich möchte Sie deshalb bitten, dass Sie bis zu unserem Treffen darauf achten, ob es sich bei Ihnen ebenso verhält.’ Soweit die Worte meines Kollegen. Ich habe mir nun überlegt, ob der Effekt nur bei psychischen Symptomen auftritt oder auch bei körperlichen. Weiterlesen

Vom Segen der Überarbeitung

Oft habe ich mich gefragt, warum einige Menschen pausenlos hektisch erscheinen und stets einen dicht gefüllten Schreibtisch und Kalender haben und immer wieder von Überarbeitung reden, und doch im Ergebnis nicht mehr leisten als andere, denen Zeit für Pausen und Erholung übrig bleibt.
Es scheint so, dass Überarbeitung ein guter Schutz ist. Zum einen macht das Herumwirbeln einen äußerst wichtigen Eindruck – wer so am Schaffen ist, wirkt geradezu unentbehrlich. Wer überarbeitet ist und schon klagen muss über die Last des Geleisteten, dem wird man leichter ein paar Fehler nachsehen. Er darf hoffen, als bewunderns- oder bedauernswert betrachtet zu werden. Wenn ein solcher Mensch mit seiner Arbeit nie ganz fertig wird, wird sie womöglich dann an andere weitergeleitet. Zumindest kann er erwarten, von neuen Aufträgen abgeschirmt zu werden. Im Laufe der Zeit wird sein Aufgabengebiet immer enger beschrieben werden oder zumindest dürften nicht viele neue Aufgaben hinzukommen. Andererseits wird er dafür sorgen, dass ihm nicht zu viel Arbeit abgenommen wird, so dass ihm die Vorteile der Überlastung womöglich abhanden kämen. Wenn Entlassungen drohen, wird ein Mensch, dessen Arbeit schon wegen ihrer Menge ins Auge fällt, gern für unabkömmlich gehalten. Doch auch als Selbständiger oder als Beamter bleibt ihm das gute Gewissen, alles Leistbare getan und gewiss nichts versäumt zu haben, indem er die verfügbare Zeit möglichst restlos mit seinen Tätigkeiten gefüllt hat.
Wie viele Nachteile hätte es aber, dasselbe Ergebnis in kürzerer Zeit zu erreichen und sich womöglich zwischendurch ein wenig auszuruhen oder Konzepte auszuarbeiten, wie die Arbeit noch entspannter noch effektiver geleistet werden könnte. Da blieben Neid und Anfeindungen nicht aus! Doch schlimmer wäre der Kampf des Gewissens mit jener unheilvollen inneren Stimme: „Wer Pausen macht, ist faul.“ Ich bin überzeugt: Wer möglichst entspannt und mit dem geringsten Aufwand viel erreichen will, der braucht eine große Portion Charakter.

S. Hammel, Der Grashalm in der Wüste, S. 29.