Geschwistertherapie

Eine Mutter wollte ihren Sohn in Therapie bringen, weil er bei den häufigen Streitigkeiten mit seiner Schwester diese regelmäßig blutig kratzte. Auch gegenüber der Mutter sei er ungehorsam, fühle sich regelmäßig im Unrecht, beschimpfe sie mit groben Worten und versuche sie zu schlagen. Der Junge ginge in den Kindergarten, seine Schwester in die erste Klasse. Auch im Kindergarten sei der Junge aggressiv und habe daher wenige Freunde, obwohl die Erzieherinnen und die Kinder sich lange bemüht hätten, ihn zu integrieren. Der Vater der Kinder sei meistens beruflich unterwegs, die Mutter fühle sich mit dem schwer zu kontrollierenden Jungen überfordert.

Ich bat die Mutter darum, zur ersten Stunde beide Kinder zur Therapie mitzubringen. Ich ließ die Kinder erklären, auf welche Arten und aus welchen Anlässen sie sich stritten. Zur zweiten Stunde bat ich die Mutter, nur die Tochter mitzubringen. Ich fragte das Mädchen: „Was meinst du? Wenn du es wirklich wolltest – auch wenn du sonst vielleicht gar nicht so bist – würdest du es irgendwie hinkriegen, deinen Bruder richtig auf die Palme zu kriegen?“ „Na klar!“ „Echt? Das kriegst du hin? Wie würdest du das denn schaffen?“ „Ach, zum Beispiel würde ich ihm so eine Grimasse machen… und dann würde ich so gucken… und dann würde ich ihm die Zunge rausstrecken…“ „Und das funktioniert?“ „Ja, das klappt gut! Und dann würde ich ihm die Zunge rausstrecken…“ „Toll… und was könntest du machen, angenommen du wolltest tatsächlich einmal, dass er dich blutig kratzt?“ „Das geht ganz leicht. Da kann ich solche Gesichter machen, oder ich kann ihm seine Malstifte verstecken.“ „Toll! Könntest du sonst noch irgendetwas machen, wenn du ihn wirklich einmal so weit bringen wolltest, dass er dich kratzt?“ „Ach, da gibt es ganz viele Möglichkeiten. Ich kann ihn zum Beispiel ‚Arschgesicht‘ nennen oder ihm meinen Hintern zeigen, oder kann ihm sagen, dass er dumm ist…“

Ich fragte noch eine Weile weiter, während die Mutter mit großen Augen daneben saß und ihre Tochter aus dem Nähkästchen plaudern hörte. Schließlich gab ich den Versuch auf, mir alle Methoden nennen zu lassen; es kam kein Ende in Sicht. „Müsste deine Mutter das mitkriegen, wenn du das machst, oder könntest du es auch so hinkriegen, dass sie gar nichts davon bemerkt?“ „Das mache ich ja im Kinderzimmer, da ist die nicht.“ „Und was passiert dann?“ „Dann läuft mein Bruder in die Küche und heult, und meine Mutter fragt was passiert ist.“ „Und dann sieht sie deine zerkratzten Arme, und du sagst, du hast nichts gemacht.“ „Ja“, sagte das Mädchen etwas leiser. „Ist das schön, wenn dein Bruder bestraft wird und du nicht?“ „Klar“, sagte sie. Ihre Augen leuchteten.

Ich bat die Mutter, im Fall von Streitigkeiten zwischen den Kindern zukünftig immer beide oder keinen zu bestrafen. Vielleicht sei das manchmal ungerecht gegenüber dem Mädchen, aber der Junge habe schon zu viele Strafen zu Unrecht bekommen. Im Schnitt sei so jedenfalls mehr Gerechtigkeit zu erreichen.

In der folgenden Stunde ließ ich den Jungen allein kommen. Ich erzählte ihm die Geschichte von Gregor, dem Drachen.

In der dritten Stunde ließ ich das Mädchen wieder kommen. Ich leiß sie Stofftiere aussuchen jeweils für ihren Bruder, für ihre Mutter, für ihren Vater und für sich, außerdem eines für „den Ärgerer, der sich freut, wenn es den anderen schlecht geht“. Ich ließ sie die Familienfiguren aufstellen. Den Ärgerer nahm ich selbst. Ich erzählte dem Mädchen, dass sich der Ärgerer freut, wenn die Familie nicht zusammenhält, und dass er denkt, das bestimmt kein Tier hilft, wenn er ihre Mutter angreift. Und ich ließ den Ärgerer das Tier angreifen, das ihre Mutter darstellte. Natürlich wurde der Ärgerer in die Flucht geschlagen und war ziemlich enttäuscht. Doch er berappelte sich und versuchte Vater und dann sie selbst anzugreifen. Jedesmal zog er den kürzen. Dann sagte der Ärgerer: „Ihren Bruder hat sie ja selbst oft geärgert. Den wird sie bestimmt nicht beschützen. Zu ihm hält sie bestimmt nicht, wenn ich ihn angreife.“ Doch wieder wurde er aufs Schlimmste zurückgeschlagen. Der Ärgerer redete das Tier an, das sie selbst darstellte und versuchte ihm mit vielen Listen zu erklären, dass ihr Bruder doch doof sei, und man ihn ärgern dürfe, ja, dass er ihr doch nur helfen wolle, ihn zu ärgern, und dass sie doch gemeinsam viel Spaß haben könnten. Doch auf keine dieser Listen fiel das Schwester-Tier herein. Der Ärgerer versuchte es auf alle Weisen, doch es zeigte sich, dass alle in der Familie zusammenhielten, und auch die Schwester ihren Bruder in jeder erdenklichen Weise unterstützte. Enttäuscht und gedemütigt musste der Ärgerer schließlich abziehen. Das Mädchen aber baute aus Seilen zwischen den Möbeln des Therapiezimmers ein Familiennetz, durch das kein Ärgerer jemals wieder eindringen konnte.

In der vierten Therapiestunde ließ ich nochmals die Mutter und den Sohn kommen. Ich ließ den Jungen mit zwei Seilen zwei Länder auf den Boden legen. Das Land des Ärgerns und – was wäre das Gegenteil? „Das Land des Schmusens“ meinte der Junge. Ich ließ ihn einige Tiere aussuchen, die im Land des Ärgerns lebten und andere, die im Land des Schmusens Lebten, und er legte sie in die jeweiligen, mit den Seilen markierten Zonen.

„Was machen denn die Tiere im Ärgerland alles miteinander?“, fragte ich den Jungen. „Und was machen die Tiere im Schmuseland?“ Dann wollte ich wissen: „In welchem Land sind die Tiere wohl glücklicher?“ Mich interessierte: „Meinst du, dass die Tiere aus dem Land des Ärgerns in das Land des Schmusens kommen wollen, oder wollen eher die Tiere aus dem Schmuseland ins Ärgerland hinüber?“ Es gab, wie erwartet, eine einseitige Emigrationstendenz. Ich fragte weiter: „Aber die Tiere aus dem Schmuseland werden die Tiere aus dem Ärgerland ja sicher nur hereinlassen, wenn die Tiere aus dem Ärgerland es hinkriegen, sich so zu verhalten, dass sie zu den Schmuse-Tieren passen, oder?“ Und dann: „Was machen denn diejenigen Tiere, die ins Schmuseland hereingelassen werden, in das alle Tiere aus dem Ärgerland gerne hineinwollen? Und wie kriegen sie das hin? Und was können sie noch alles tun, um hineinzudürfen? Und was machen sie alles dort, um da bleiben zu dürfen und nie wieder herausgeschmissen zu werden? Und wer darf alles jetzt schon rein ins Schmuseland, weil er schon gelernt hat, das so zu machen? Und was meinst du, wer darf als nächstes?“ Und immer mehr Tiere durften aus dem Ärgerland ins Schmuseland hinüber, weil sie es gelernt hatten, wie Schmusetiere zu leben. Schließlich stritten sich im Ärgerland nur noch ganz wenige, und bald danach war das Ärgerland leer.

Nach der vierten Sitzung rief die Mutter der beiden Kinder an, dass kein weiterer Therapiebedarf bestehe, weil sich die Probleme in der Familie wie auch im Kindergarten weitestgehend aufgelöst hätten.

Die Ahnungslosen

„Ich habe oft Jugendliche vor mir sitzen, die auf jede Frage, die ich ihnen stelle, antworten: ‚Keine Ahnung‘. Was kann man mit denen machen?“ fragte mich eine Beraterin.

„Erzähle ihnen vom Stamm der Ahnungslosen“, sagte ich. „Sie leben im Dschungel der Unwissenheit und haben echt keine Ahnung. Als sie sich Hütten bauen wollten, haben sie am Anfang Gras genommen. Das hat aber nicht geklappt, dann haben sie Blätter genommen. Danach haben sie es mit Lianen probiert, das war auch nicht so gut. Rindenstücke waren zwar besser, aber auch nicht überzeugend. Sie haben alles mögliche versucht, es war alles nichts. Die Holzhütten haben dann schließlich gehalten. Dann wollten sie sich Kleider machen. Und sie hatten echt keine Ahnung. Sie haben mit Schlamm experimentiert, den sie auf der Haut haben trocknen lassen, und danach mit Büffelmist, den sie zu breiten Fladen ausgerollt haben und nach dem Trocknen um die Hüften gelegt haben. Das war zwar besser, hat aber bei Regen nicht mehr funktioniert. Kleider aus Dornengestrüpp waren auch nicht das Richtige. Irgendwann haben sie dann Flechtröcke und Lederstücke verwendet, von da an ging es besser. Die waren so blöd, die waren echt ahnungslos. Einmal wollten sie ein Boot bauen. Da haben sie Wasserpflanzen verwendet. Auch die Boote aus Stein waren nicht gut. Die Ahnungslosen haben alles Mögliche probiert. Sie waren so ahnungslos, dass sie noch nicht mal ans Aufgeben gedacht haben. Das ist schon eine Leistung. So haben sie halt immer weitergemacht. Irgendwann hat mal einer einen Baum ausgehöhlt. Das hat funktioniert, das haben sie beibehalten. Dann wollten sie Fischen fahren. Erst wollten sie die Fische vergiften, aber das war nicht so gut… und so weiter…

Erzähle den Jugendlichen so lange von den Ahnungslosen, bis sie es überdrüssig werden und von ‚keine Ahnung‘ nichts mehr wissen wollen. Erzähle ihnen so lange, wie die Ahnungslosen ‚keine Ahnung‘ hatten, bis die Jugendlichen zwischen Amüsiertheit und zunehmend genervter Ungeduld schwanken. Dann erzähl ihnen eine Lösung und ziehe die nächste Etappe wieder in die Länge. Nimm dir Zeit. Lass die Ahnungslosen so doof sein, wie es nur geht, und noch viel unfähiger, als die Jugendlichen sich fühlen. Lass sie so bescheuert sein, dass die Jugendlichen nur über sie lächeln können. Die Ahnungslosen sind maximal blöd. Das Gute ist nur, dass sie immer weiter machen und immer Erfolg haben. Wer den Stamm der Ahnungslosen kennt, für den ist, ‚keine Ahnung‘ zu haben, nicht mehr cool und auch nicht mehr egal. Aber es ist auch keine Tragödie. Man kann etwas daraus machen.“

Der versetzte Baum

Die folgende Geschichte verwende ich gerne bei Kindern, die Verluste zu verarbeiten haben, wie die Trennung von einem Elternteil, ein Umzug, ein Schulwechsel oder auch die Umstellungen, die mit einem Wechsel in ein Heim, in eine Pflege- oder Adoptivfamilie einhergehen. Aber sicher ist sie auch für Erwachsene in ganz unterschiedlichen Situationen geeignet.

Ein Gärtner fand bei der Arbeit in seinem Garten inmitten eines schattigen Gebüschs einen kleinen Baum. ‚Nanu!’ rief er aus. ‚Eine Felsenbirne! Wie die wohl hierher kommt?’ Einen solch schönen und wertvollen Baum hätte er nie an diesem dunklen Ort vermutet! Vielleicht hatte ja der Wind oder ein Vogel den Samen für den Baum dahin getragen.
Der Gärtner überlegte, was er nun tun würde. Er wusste, dass es manchmal schwierig ist, eine Pflanze an einen anderen Ort zu verpflanzen. Er wusste aber auch, dass seine Felsenbirne an diesem schattigen Platz niemals zu einem starken, schönen, großen Baum gedeihen konnte.  So entschloss er sich, den Baum an einen anderen Ort umzupflanzen, wo er genügend Sonne und Wasser bekäme, um kraftvoll und schön zu wachsen. Er nahm seinen Spaten und stach die Erde in einem weiten Kreis um den Stamm des Baumes aus. An einem anderen Ort hob er ein Loch aus der Erde aus und stellte den Felsenbirnbaum mit seinem Wurzelballen dort hinein. Dann gab er noch etwas Erde und genau die richtige Menge Felsenbirnbaum-Dünger dazu und goss die Pflanze gründlich.
Als er am nächsten Tag nach seinem Baum schaute, war er traurig: Der Baum ließ alle Blätter hängen! Wahrscheinlich – so dachte der Gärtner – hatte er seine Wurzeln schon so weit ausgestreckt gehabt, und dann beim Ausgraben aus der Erde ein paar von seinen kleinen Haarwurzeln verloren. Das ist eine Verletzung für den Baum, die kostet Kraft. Aber die Wurzeln eines Baumes wachsen nach. Der Gärtner beschloss, gut für seinen Baum sorgen und einfach eine Weile zu warten. Er gab dem Baum seine Zeit und wartete, und tatsächlich – bald hatten die Blätter ihre frühere Kraft wieder gefunden. Nach wenigen Monaten war der Baum kräftig gewachsen und nach einigen Jahren war er zu einem großen, starken Baum geworden.

Das depressive Entlein

Von meinem Kollegen Dr. Elmar Hatzelmann aus München stammt die Geschichte vom depressiven Entlein, die mir sehr gut gefällt und die ich daher an dieser Stelle weitergeben möchte…

Es war einmal ein ziemlich hässliches Endlein. So sah sie es und sie war sich ganz sicher, denn sie beobachtete alle anderen Tiere. Und alle waren besser, schöner, toller.
Nichts passte ihr an sich, rein gar nichts. Und das war es auch schon. Sie war ein Nichts. Null, Zero. Luft. Nicht mal Staub. Sie war so abgrundtief hässlich. Die Inkarnation von Hässlichkeit. Und wahrscheinlich wussten es alle anderen auch. Die Farbe der Flügel, die Größe, die Haltung, einfach alles völlig daneben. Es war einfach
nichts – sie war wirklich das Ende. Sie konnte nicht mal mit klugen Gesprächen ihre äußere Nichtigkeit ausgleichen. Denn dort war es genau so. Sie war einfach nicht klug genug, mental tote Hose. Sie konnte sich nur noch mit ihrem Schicksal abfinden. So ist es halt. Gaußsche Verteilungskurve. Dort war sie ganz ganz links am Anfang der Kurve, lebenslang eingebucht auf niedrigste Intelligenz und schlechtestes Aussehen. Das musste so sein. Denn es musste ja auch einen Durchschnitt und die ganz tollen Glücklichen geben.
Vielleicht würde sie im nächsten Leben auch zu den Glücklichen gehören, als Schwan oder so.
Alle hatten es viel besser. Weiterlesen

Wertvolle Beratung: Würde

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so heißt es in den ersten Worten des Grundgesetzes. Unscharf bleibt, ob gemeint ist, sie dürfe nicht angetastet werden, oder sie könne gar nicht angetastet werden, denn sie bleibe im Innersten eines Menschen unversehrt erhalten, egal, was er erlebt. Würde als etwas dem Menschen Innewohnendes, von Menschen nicht Entziehbares, ist ein versteckt theologischer Begriff.

Der Begriff hat einen Vorläufer in dem jüdischen und später christlichen und muslimischen Gedanken, der Mensch sei als „Gottes Ebenbild“ geschaffen, als ein Abbild der Schöpferkraft, der Heiligkeit, Ehrwürdigkeit und auch der erschütternden Macht des Großen, Ganzen, aus dem alles geworden ist.

Wenn wir behaupten, dass jeder Mensch, weil er Mensch ist, eine unverlierbare Würde hat, fordert das von uns, dass wir jedem Menschen Respekt entgegenbringen. Gleich, wie sehr uns ein Mensch als Täter oder auch als Opfer entgegentritt, hat er einen Anspruch auf Achtung und Wertschätzung. Wenn es uns nicht gelingt, ihm diese entgegenzubringen, betrachten wir das als unsere Grenze, und nicht als Begrenzung seiner Person.

Jeden Menschen unter dem Blickwinkel seiner Würde zu sehen und ihm Achtung entgegenzubringen, bedeutet, dass wir die Menschen unter dem Blickwinkel sehen, welches gute Potential in ihnen auf seine Entfaltung wartet – vielleicht jetzt noch verschüttet und versteckt – und welche Vision es für ihre Entwicklung gibt. Weiterlesen

Adlerküken

Das hier ist eine Geschichte, die mein Großvater mir erzählt hat, als ich ein Kind war. Ich erzähle sie zum Beispiel Kindern aus Patchwork- und Pflegefamilien und Kindern getrennterziehender Eltern.

Wo genau diese Geschichte sich ereignet hat, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, es muss in einem Dorf auf dem Balkan gewesen sein, im ehemaligen Jugoslawien. Ganz genau weiß ich noch dies: Das Adlerküken war aus seinem Nest gefallen. Es war quicklebendig. Als die Familie es fand, schlug es mit den Flügeln und sperrte den Schnabel weit auf. Verletzt war es anscheinend nicht, außer an einer Stelle, wo es ein wenig blutete. Die Eltern der Familie zögerten eine Zeitlang. Sie sahen sich um. Da war weit und breit keine Adlermutter zu sehen und kein Adlervater. Allein auf sich gestellt, wäre das Adlerjunge gestorben. Was sollten sie tun? Die Kinder baten und drängten ihre Eltern, und so nahmen sie es schließlich mit. Zuhause setzten sie es erst einmal in einen Käfig, in dem früher einmal ein Paar Nymphensittiche gewohnt hatten. Weiterlesen

Die Wüste

Einmal die Wüste zu erleben, die riesige weite Sahara, das war sein Traum. Jetzt hatte er sich diesen Traum erfüllt. Mit Flugzeug, Bus und Jeep war er dorthin gekommen, in irgendein bedeutungsloses Dorf, das er sich auf der Landkarte ausgesucht hatte, irgendwo am Rande der Sahara. Und er wusste: Dahinter kommt nichts mehr. Keine Straße, keine Siedlung, keine Quelle. Nur Sand, Steine, Felsen. Was ihn eigentlich dahin gezogen hatte, wusste er nicht. Eine Sehnsucht, aus der Tiefe seiner Seele. Vielleicht war es das, vielleicht war er zu lange von zu vielen Menschen umgeben gewesen, zuviel Unruhe, zu viele Stimmen, die alle etwas von ihm wollten. Auf der Arbeit, in der Nachbarschaft, die Familie zuhause, alle zerrten sie an einem: Könnten Sie nicht… würdest du bitte. Und nun: Stille, nichts und niemand um ihn herum. Weiterlesen

Warst du heute schon besonders?

Mit einer Kollegin habe ich mich gerade über einen Arzt unterhalten, den wir beide kennen. Die Kollegin sagte: „Immer wieder, wenn ich ihn treffe, stellt er mir die selbe Frage: ‚Warst du heute schon besonders?‘ Er hat mich das schon so oft gefragt: ‚Warst du heute schon besonders?‘ Und wenn ich ihn inzwischen treffe, dann denke ich schon ganz von selbst, bevor er mich noch fragt: ‚Warst du heute schon besonders?'“

Die Linsländer

Im Linsland werden die Menschen mit einem Fernglas vor den Augen geboren. Die meisten kommen mit einem verkehrt herum aufgesetzten Fernglas auf den Augen zur Welt. Sie sehen alles ganz klein. Wenn sie einen Menschen treffen, denken sie zum Beispiel: „Ist die aber weit weg“, „ist die aber klein“ oder auch „ist die aber dünn“. Einige wenige Leute kommen zur Welt mit dem Fernglas richtig herum auf den Augen. Sie schauen zum Beispiel an sich herab und denken: „Bin ich aber lang und breit“. Wenn sie mit den anderen Leuten aus Linsland sprechen, werden sie sich untereinander nie einig. Doch einmal machte eine Frau in Linsland eine unglaubliche Entdeckung…

Die Geschichte von den Linsländern ist therapeutisch einsetzbar bei Leuten mit einer Körperschemastörung, also etwa bei magersüchtig oder fettsüchtig lebenden Menschen, die (in der Wahrnehmung ihrer Umwelt) keine realistische Einschätzung ihrer Figur haben. Sie ist auch nützlich bei anderen Menschen, deren Selbstbild sich stark von der ihrer Umgebung unterscheidet, also etwa bei Leuten, die sich selbst immerzu schlecht machen, während die anderen sie überwiegend positiv bewertet, bei hypochondrisch orientierten Personen und bei anderen, die zwanghaft denken, die also ein relativ kleines (oder nicht vorhandenes) Problem in den Augen der Welt zum größten Problem ihres Lebens gemacht haben.