Adlerküken

Das hier ist eine Geschichte, die mein Großvater mir erzählt hat, als ich ein Kind war. Ich erzähle sie zum Beispiel Kindern aus Patchwork- und Pflegefamilien und Kindern getrennterziehender Eltern.

Wo genau diese Geschichte sich ereignet hat, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, es muss in einem Dorf auf dem Balkan gewesen sein, im ehemaligen Jugoslawien. Ganz genau weiß ich noch dies: Das Adlerküken war aus seinem Nest gefallen. Es war quicklebendig. Als die Familie es fand, schlug es mit den Flügeln und sperrte den Schnabel weit auf. Verletzt war es anscheinend nicht, außer an einer Stelle, wo es ein wenig blutete. Die Eltern der Familie zögerten eine Zeitlang. Sie sahen sich um. Da war weit und breit keine Adlermutter zu sehen und kein Adlervater. Allein auf sich gestellt, wäre das Adlerjunge gestorben. Was sollten sie tun? Die Kinder baten und drängten ihre Eltern, und so nahmen sie es schließlich mit. Zuhause setzten sie es erst einmal in einen Käfig, in dem früher einmal ein Paar Nymphensittiche gewohnt hatten.

Die Eltern sprachen dann mit einem Jäger, der ihnen erklärte, was sie zu tun hatten. Sie räumten für das Adlerjunge einen Kellerraum aus. In die Mitte des Raumes legten sie auf eine Holzkiste einen alten Autoreifen, den sie mit Stoffstücken und alten Kleidern auskleideten. Dort hinein setzten sie das große Küken. Sie gaben ihm Fleischstücke zu essen und gaben ihm zu trinken. Die Kinder machten sich einen Spaß daraus, zu krächzen, wie sie es an dem Adlerhorst gehört hatten. Das Junge krächzte zurück. So begann immer wieder eine längere Unterhaltung. Der Adler wuchs und gedieh. Sein Federkleid veränderte sich. Es wurde glatt und dunkelbraun.

Eines Tages kam der Jäger zu Besuch. Er schaute nach dem Adler und sagte: „Du bist ja schon ein großer Kerl geworden!“ Und zur Familie sagte er: „Es wird Zeit, dass wir mit ihm nach draußen gehen.“ Er gab dem Vater einen Lederhandschuh mit einem langen Stulpen, und sie setzten ihm den Adler auf den Arm. Dann gingen sie miteinander spazieren. Neugierig und unternehmungslustig sah sich der Vogel um. Die Kinder lachten, als der Vater am nächsten Tag beim Frühstück anmerkte, dass er am Arm jetzt Muskelkater habe. Der Jäger kam nun öfter, und ihre Spaziergänge wurden immer länger. An einem Tag sahen sie andere Greifvögel am Himmel. Auch der Adler sah sie. Er schrie und flatterte so heftig mit den Schwingen, dass sich der Vater in Acht nehmen musste, um nicht von einem der kräftigen Flügel geschlagen zu werden.

Die nächsten Spaziergänge glichen schon einer Wanderung. Schließlich gingen sie bis zum oberen Rand des felsigen Abhangs, an dessen Fuß sie den Adler gefunden hatten. Sie schauten hinab. Weiter unten sahen sie einen großen Adler und zwei etwas kleinere in der Luft ihre Kreise ziehen. Die Jungen waren noch ungelenk. Sie schlugen öfter mit den Flügeln, und manchmal, wenn ein kräftiger Windstoß kam, sah es aus, als ob sie für einen Moment das Gleichgewicht verlören. Der Adler am oberen Ende des Abhangs schien konzentriert zuzuschauen. Mit gerecktem Hals stand er bewegungslos auf seinem Posten auf Vaters Arm. Als ob er versuchte, sich zu erinnern und etwas zu verstehen… Wieder schlug er heftig mit den Flügeln, krächzte einmal und schrie dann, wie nur ein Adler schreien kann. Als das Tier wieder zur Ruhe kam, umgriff der Vater seinen Körper mit dem linken Arm und hielt ihn so fest. Er zog den rechten Arm unter den Fängen des Vogels weg und fasste ihn an den Beinen, so dass die Krallen des Tieres ins Leere griffen. Etwas ärgerlich versuchte der Vogel mit dem Schnabel nach der menschlichen Hand zu stoßen, die seine Beine umgriff, doch nicht so, dass er den Vater wirklich hätte verletzen wollen. Trotzdem zuckte der Vater zusammen. Der nächste Schritt musste sehr schnell gehen. Sanft drehte sich der Vater nach hinten um den eigenen Körper. Dann warf er den Vogel mit aller Kraft nach vorne in die Tiefe. Der Adler war offensichtlich überrascht. Er gab einen unterdrückten Schrei von sich. Er flatterte und taumelte durch die Luft. Eine Weile schien er zu fallen, doch schließlich fing er sich und flog mit ungelenken Schlägen durch die Luft. Nach einiger Zeit ließ er sich auf einem felsigen Absatz nieder, um sich zu erholen. Eine Weile schauten sie ihm noch zu, dann gingen sie alle nach Hause. In den nächsten Tagen wanderten sie noch mehrere Male zu dem Abhang. Was sie dort sahen, machte sie froh: Die Adler kreisten nun zu viert am Himmel. Anscheinend hatten sie sich wieder erkannt.

Als der Herbst kam, waren die Adler weg. Auch im Winter sahen sie keinen von ihnen am Abhang kreisen. Als der Schnee am tiefsten war und der Frost am kältesten, schauten sie einmal aus dem hinteren Fenster ihres Hauses und sahen dort ihren Adler sitzen. Sie gaben ihm ein Stück trockene Wurst, das er gierig verschlang. In den nächsten Tagen kam er noch einige Male. Dann taute der Schnee, und der Adler blieb aus.

Anderthalb Jahre später schrieb eine Tante aus einem weiter entfernten Dorf, dass in ihrer Gegend zum ersten Mal ein Adlerpaar nistete und seine Jungen großzöge. Sie fuhren hin – offiziell natürlich, um die Tante zu besuchen, doch eigentlich mehr, um nach den Vögeln zu schauen. Als sie den Horst sahen, schlug dort ein Adler heftig mit den Flügeln und ließ einen lauten Schrei hören. Ob es wohl ihr Adler war?

2 Gedanken zu „Adlerküken

  1. Lieber Herr Hammel,

    danke für Ihre wundervolle Sammlung, die mich immer wieder inspiriert!

    Auf „Adlergeschichten“ bin ich immer besonders neugierig. In meinem (sehr schulkritischen) Blog finden sich ebenfalls zwei Beiträge mit Adlergeschichten:
    „Vielleicht bist du der Adler, der nicht fliegen wollte…“ – eine recht bekannte Geschichte von James Aggrey – und „Die Geschichte von den Gänsen, die nicht fliegen wollten“ – eine vielleicht weniger bekannte Geschichte, gelesen bei Jorge Bucay.

    Ihnen alles Gute!
    FranKlin

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