Zuhause habe ich ein Grammophon. Darauf spiele ich zum Beispiel „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“. Zarah Leander singt das mit ihrer tiefen Stimme – wunderbar! Ich höre die Rabenstimme von Louis Armstrong, und ich empfinde es als eine Begegnung mit ihm selber, mit ihm ganz persönlich.
Ich höre auch Enrico Caruso, mit seinem Vibrato aus grauer Vorzeit. Er singt „O sole mio“.
Aus den Rillen der Platte, aus der Nadel, aus dem Trichter tönen die Stimmen, ohne Elektrizität, die Stimmen dieser Menschen selbst.
Wenn aus dem Trichter ihre Stimme ertönt, begegne ich ihnen. Dann aber verstummt das Grammophon, und ihre Stimmen kehren zurück in jene andere Welt, die getrennt ist von unserer in der die früheren Besitzer dieser Stimme wohnen.
Archiv des Autors: Stefan Hammel
Peer und Rasputin
Peer ist sechs Jahre alt. Er lebt in Lillebløm im Elchland und geht in die erste Klasse. Anfangs hatte Peer noch Angst vor den großen Schülern. Zweimal haben sie ihn nämlich auf dem Schulweg verhauen, so dass er fortan ganz ängstlich war. Dann hat er Rasputin kennen gelernt, und sie sind Freunde geworden. Rasputin ist ein Waldtroll. Einige Monate lang ist Rasputin mit Peer in die Schule gegangen, und keiner hat sich mehr getraut, Peer noch etwas zu tun. Aber dann kam der Winter, und die Trolle halten ja Winterschlaf. Rasputin hat sich also für die Wintermonate von Peer verabschiedet. Was soll Peer tun? „Ich habe eine Idee“, denkt er. Er geht nun in die Schule, als ob Rasputin bei ihm wäre: Mit erhobenem Kopf, sicher und stark. Anfangs ist ihm das schwer gefallen, aber er hat einfach so getan, als ob Rasputin da wäre. Wenn ihn jemand ärgern will, schaut er dahin, wo in seiner Vorstellung Rasputin gerade ist. Dann fühlt er sich sicher. Aber eigentlich – ärgert ihn jetzt gar niemand mehr. Woher das wohl kommt?
In der Therapie ist es möglich, ein Kind seinen Rasputin basteln oder malen zu lassen, oder dem Kind vorzuschlagen, ihn ganz genau zu beschreiben und ihn danach in Gedanken überallhin mitzunehmen, vo es ihn dabei haben möchte.
Begründeter Therapieabbruch
Letzte Woche hatte ich ein erstaunliches Gespräch. „Ich habe die Therapie bei Ihnen vor einem halben Jahr bei Ihnen abgebrochen, weil ich mich über Sie geärgert habe“, sagte zu mir eine Frau am Telefon. Aber letztlich ist dabei etwas herausgekommen, was mir geholfen hat. Nun hat diese positive Wirkung nachgelassen, und ich möchte fragen, ob ich noch einmal kommen kann, um den Effekt bei Ihnen aufzufrischen.“ „Das können Sie“, antwortete ich. „Was wäre denn dann das Ziel der Therapie?“ „Sie hatten mich damals bedroht, indem Sie mir erzählten, dass man von dem vielen Erbrechen Speiseröhrenkrebs bekommen kann“. Ich erinnerte mich: Ich hatte der Klientin von den trachiotomierten Patienten erzählt, wie ihre medizinische Behandlung abläuft, wie sie reagieren und wie man mit ihnen kommunizieren kann. Ich hatte ihr auch erzählt, was der unterschied zwischen einer Kanüle zum Atmen frisch nach der OP und einer Sprechkanüle ist, wie es gluckert, wenn die Patienten husten oder zu reden versuchen, wie der Schleim und das Blut aus den Röhrchen kommt und wie man die Flüssigkeit absaugt. Die Patientin fuhr fort: „Nach der letzten Therapiestunde konnte ich mich nicht mehr übergeben, und nachdem das nicht mehr ging, waren mir die Eßattacken auch nicht mehr möglich. Nach einer Weile merkte ich, dass das meinem Selbstbewusstsein gut tut, und es fing an, mir so zu gefallen. Mein Vater hatte Krebs. Inzwischen ist er verstorben. Ich habe jetzt nach einem halben Jahr wieder etwas mit der Bulimie angefangen. Ich habe keine Angst mehr vor dem Krebs, aber ich möchte den Effekt auffrischen, damit ich wieder frei werde.“
Die Quelle des Verstehens
Diese Geschichte verwende ich bei Allergien und Immunerkrankungen. Zuallererst hatte ich sie bei einer Morbus-Crohn-Patientin eingesetzt. Aber natürlich passt sie auch ins Teamcoaching, in die Paartherapie und einfach überall, wo Menschen sich erst nicht richtig und dann vielleicht doch verstehen…
Einige reden Kisuahili und andere Zulu, und einige armenisch und einige rätoromanisch; ich habe angefangen polnisch zu lernen, und gerne würde ich russisch sprechen oder norwegisch oder neugriechisch. Das alles hat einen tiefen Sinn. Es dient unserer Verständigung. „Die Sprache ist die Quelle der Missverständnisse“ hat einmal jemand gesagt. Ob das so stimmen kann! Die Sprache ist nämlich auch der Weg, um sich wieder zu verstehen. Und auch der Frieden, gerade der Frieden wird durch Sprache geschlossen und erhalten! Ich sagte: Es gibt auf der Welt so viele Sprachen. Und ich meine: Es gibt Menschensprachen und vielleicht auch Engelssprachen. Vielleicht gibt es sie auch nicht, aber es gibt Tiersprachen, und es gibt die Taubstummensprachen und es gibt Computersprachen und es gibt Körpersprachen und Weiterlesen
Die Dicke und die Dünne
Hier habe ich eine Geschichte für Anorektikerinnen.
Es gibt zwei Welten. Es muss zwei Welten geben, denn wir reden nicht von der gleichen Welt. Wir reden von verschiedenen Welten.
In der Innenwelt wohnt die Dicke. Die Dicke ist nicht besonders beliebt. In der Innenwelt ist sie verachtet, und die in der Außenwelt behaupten, es gäbe sie nicht.
In der Außenwelt wohnt die Dünne. Auch die Dünne ist nicht sehr beliebt, denn in der Außenwelt macht sie allen Leuten Sorgen, und in der Innenwelt glaubt man nicht an sie.
Die Dicke aus der Innenwelt glaubt nicht an die Dünne von der Außenwelt. Sie wundert sich nur, dass ihr Leute begegnen, die behaupten, dass sie sie täglich treffen.
Die Dünne aus der Außenwelt glaubt auch nicht an die Dicke von der Innenwelt. Sie wundert sich nur, dass die Person, die es am meisten betrifft, erklärt, dass sie die Dicke täglich sieht.
Wer hat nun recht? Die an die Dicke glauben, oder die an die Dünne glauben?
In den Köpfen von Menschen gibt es beide, die Dünne und die Dicke. Sie wohnen nur in verschiedenen Welten. Sie leben auf verschiedenen Planeten.
Im Zeitalter der Technik ist der Besuch anderer Planeten eine Frage der Transportmittel. Ich kann mir vorstellen, ich besteige eine spezielle Kapsel, die mich für eine begrenzte Zeit von der Innenwelt hinüberbringt zur Außenwelt. Das könnte angenehm sein, denn auf dem Weg dorthin bin ich die Dicke los, von der ich lang schon Urlaub machen möchte. Der Preis, den ich dafür zu zahlen habe, ist, dass ich bei einem Besuch in der Außenwelt der Dünnen begegnen könnte, an die ich nicht glaube und vielleicht auch gar nicht glauben möchte. Und die Dünne sieht ja angeblich schlimm aus, aber wer weiß. Ich stelle mir vor, dass gleichzeitig mit mir, sozusagen im Austausch, von der Außenwelt ein zweites Raumschiff startet, das zur Innenwelt fliegt und einen Urlaubsbesuch in der Welt der Dicken macht. Dann können sie sich einmal vorstellen, wie es ist, Tag für Tag mit ihr zusammen zu wohnen und bestreiten nicht mehr, dass sie da ist.
Ich werde diese Reise nur wenige Male machen. Wozu soll ich mich dieser Mühe unnötig oft unterziehen? Denn später schicke ich die Dicke selbst auf die Reise zu der Dünnen, damit sie sich austauschen und voneinander lernen. Denn ich möchte, dass die Dicke von der Dünnen lernt, und die anderen möchten, dass die Dünne von der Dicken lernt. Ich bleibe zuhause und mache Urlaub von der Dicken.
Wenn sich die beiden miteinander austauschen und in der Mitte treffen, auf halbem Weg… von wegen halb: sie könnten sich ja auch an einem dritten Planeten treffen, wie Unterhändler, die an einem dritten Ort ein Mittel finden, das die Gläubigen im Reich der Dicken und die Gläubigen im Reich der Dünnen zu einer Gemeinschaft macht, und sie gründen miteinander den Es-ist-ganz-anders-Planeten. Und sie wohnen miteinander auf dem Es-ist-ganz-anders-Planeten und tauschen und teilen alles miteinander. Und auf dem Es-ist-ganz-anders-Planeten gibt es keine Innenwelt und keine Außenwelt, und die Dicke und die Dünne geben sich die Hand und folgen einem anderen, einem ganz eigenen Weg.
Ausbrüche
Ich bin es gewohnt, bei allem, was mir widerfährt und nicht gefällt, zu fragen: „Wofür kann ich das denn immerhin noch nutzen?“ Nun hatte ich vor einiger Zeit eine Magen-Darmgrippe. Ich wachte morgens auf und wusste: Es war nur eine Frage der Zeit, und ich würde mich übergeben. Mehrmals wahrscheinlich, vielleicht viele Male. Nun also: Wofür kann ich das noch nutzen? Ich widmete jeden Gang zum Bad einer Erfahrung, einer Zeit, einer Person, die mich verletzt hatte. Es waren kraftvolle, befreiende Ausbrüche, die mir in ausgezeichneter Erinnerung geblieben sind.
Das gute Gel
Ein befreundeter Arzt hat mir erzählt:
„Früher hielt ich nichts von Placebos – bis ich in meiner Praxis einer Patientin ein Schmerzmittel geben wollte und kurz den Raum verließ, um es zu holen. Als ich zurückkehrte, war die Frau ohne Medikament verschwunden. Wochen später kam sie wieder: ‚Könnte ich noch einmal etwas von diesem fantastischen Gel haben?‘ bat sie mich. ‚Was hat sie denn damals mitgenommen?‘, fragte ich die Arzthelferin. ‚Die Kontaktflüssigkeit fürs EKG‘. ‚Dann gib ihr davon etwas mit.'“
Das Vermächtnis
Zum Schmerz der Trauer gehört es, dass Vergangenes verloren erscheint, und dass es nicht mehr möglich scheint, dem Verstorbenen etwas an Liebe zurückzuschenken. Der bis dahin stetig sich fortsetzende Kreis von Geben und Nehmen ist unterbrochen; die Hinterbliebenen bleiben gewissermaßen auf ihrer Liebe (und auf ihren Versäumnissen) sitzen und können das empfangene Gute, wie es scheint, nicht mehr erwidern. In diesen Zusammenhang gehört die Vermächtnisintervention. Der Therapeut oder die Therapeutin sagt sinngemäß zu den Trauernden:
Sie haben mir viel Gutes über Ihren verstorbenen Bruder erzählt. Er ist bestimmt ein sehr liebevoller Mensch gewesen. Verstanden habe ich, dass er sehr gut zuhören konnte, dass er geduldig war, dass er sich rührend um seine Angehörigen gekümmert hat, dass er einen besonderen Humor hatte…
Ich habe den Eindruck, dass diese Begabungen auch bei Ihnen vorhanden sind. Vielleicht hat er Sie damit angesteckt. Ganz sicher hat er Ihnen viel gegeben, was Ihnen bleibt. Das ist ein Geschenk, so wie ein Vermächtnis, von dem Sie etwas an einander weiter geben können – jetzt ganz besonders an die anderen, die um ihn trauern. Sie können dieses Gute, was Sie von Ihrem Bruder erhalten haben, an die Menschen weiter geben, die er geliebt hat. Sie können es an Ihre Kinder weitergeben, an Ihre Schüler, an alle Menschen, denen Sie etwas Gutes geben möchten.
Was meinen Sie – ist es in seinem Sinne, wenn Sie das Gute, was er Ihnen geben konnte, so an die anderen weitergeben?
Dann würde er gewissermaßen durch Sie handeln und durch Sie weiter andere beschenken?
Dann handeln sie ja auch in seinem Namen, wenn Sie das Gute tun, was er sonst täte?
Dann geben Sie ihm ja auch etwas zurück, oder nicht?
Denn das, was Sie in seinem Sinne und in seinem Namen tun, das geben Sie auch ihm als Dank zurück. Kann man das so sehen?
Dann hat ihr Bruder noch nicht aufgehört, der Welt etwas zu schenken, und Sie können so noch lange Zeit Ihren Bruder beschenken.
Der Kloß im Hals
Vor einiger Zeit hatte ich eine Klientin hier, die litt unter einer diffusen Angst, die sich immer wieder in Panik steigerte – eine sogenannte „generalisierte Angststörung“. Nun beabsichtigte sie, eine größere Reise zu machen – aber die Vorstellung, mit ihrer Angst im Ausland zu sein, steigerte ihre Angst noch mehr. So kam sie in Therapie. Ich bat die Klientin, sich vorzustellen, die Angst wäre eine Struktur ihr gegenüber an der Wand, und sie könnte sie sehen. Es entwickelte sich der folgende (um Redundanz zu vermeiden, etwas gekürzte) Dialog:
„Ich kann das nicht nach draußen projizieren. Es ist wie ein Kloß im Hals.“
„Ein Kloß im Hals? Könnte man den nicht essen? Vielleicht mit Messer und Gabel zerteilen?“
„Nein, er sitzt fest.“
„Ist der Kloß hohl oder gefüllt?“
„Er ist mit Wasser gefüllt.“
„Und außen herum ist eine Haut?“
„Ja.“
„Was passiert, wenn Sie ein Loch in die Haut pieksen dann?“
„Das Wasser fließt weg.“ (Die Klientin beginnt zu weinen.)
„Und fließt wohin?“
„In den Magen.“
„Und dann wird es weiter laufen, bis es irgendwann in einen Bach mündet, und der fließt in einen größeren Bach, und der fließt dann vielleicht in die Nahe, und die fließt in den Rhein, ja?“
„Ja.“
„Und der Rhein fließt ins Meer. Da kommen Sie an Ihren Kloß ja gar nicht mehr heran! Werden Sie Ihn denn dann nicht vermissen?“
„Nein, überhaupt nicht.“
„Und wenn Sie am Meer stehen, werden Sie sich dann nicht wünschen, dass seine Tropfen zu Ihnen zurückkehren?“
„Nein, bestimmt nicht.“
„Ja, aber der Kloß ist vielleicht ganz unglücklich ohne Sie!“
„Das ist mir egal.“
„Aber dann sind Sie Ihren Kloß ja ganz los! Was machen Sie denn so ganz ohne Kloß?“
„Mich freuen.“
„Ja, dann brauchen Sie mich ja jetzt gar nicht mehr. Vermissen Sie die Therapie dann nicht?“
„Das geht schon in Ordnung.“
„Dann müssen wir uns wohl damit abfinden, dass Sie keine Therapie mehr brauchen.“
„Das wird schon klappen…“.
Das Problem, das seit etwa einem dreiviertel Jahr bestanden hatte, war damit aufgehoben.
Die Giraffe und die Unterführung
Hier eine Geschichte, die mein Kollege Dr. Elmar Hatzelmann geschrieben hat und die ich sehr mag.
Es war einmal eine Giraffe. Sie wohnte gegenüber vom Bahnhof in einer netten Wohnung und mußte jeden Tag mit dem Zug zur Arbeit fahren. Es gab zwei Wege zum Bahnhof: rechtsherum über den beschrankten Bahnübergang – das war der lange Weg. Oder linksherum zur Unterführung – ein kurzer Weg. Leider war sie zu groß für die Unterführung und mußte daher immer den langen Weg über den Bahnübergang nehmen. Das war natürlich sehr beschwerlich und kostete sie immer viel Energie und Zeit, die sie lieber anders genutzt hätte. Daher wurde es ihr eines Tages zu bunt, und sie entschloss sich, in der Stadt eine andere Wohnung zu suchen.
Leider hatte sie wenig Glück, denn aufgrund ihrer Größe gab es wenig Auswahl an schönen Wohnungen, oder aber die Zimmer waren viel zu teuer. So wurde sie immer trauriger und fast ein bisschen hoffnungslos und depressiv. Wie sollte es bloß weitergehen? Eines Tages ging sie wieder deprimiert und hoffnungslos aus dem Haus und schlug aufgrund ihrer Traurigkeit versehentlich den falschen Weg ein und ging Richtung Unterführung. Aber – welche Überraschung! Dieses Mal passte sie durch die Unterführung, da sie den Kopf so tief hängen ließ. Als sie plötzlich wahrnahm, dass sie durch die Unterführung passte, wurde es ihr ganz leicht ums Herz zumute. So einfach lösten sich ihre Probleme: Sie konnte in ihrer hübschen Wohnung bleiben, brauchte jetzt nicht mehr umzuziehen und war damit alle Sorgen los.