Der König des Waldes

Die folgende Geschichte erzähle ich gerne Perfektionisten, Leuten mit Zwangsproblemen, mit einem starken Kontrollbedürfnis, Denkern und Grüblern. Auch für einige Menschen mit sexuellen Schwierigkeiten ist sie gut geeignet.

„Wir sind zu viele geworden“, sagten einst die Bäume des Waldes. „Wir brauchen einen, der über uns herrscht. Wir brauchen einen, der uns sagt, wo wir wachsen sollen und wie wir unsere Zweige ausbilden sollen. Wir brauchen einen, der uns sagt, wann wir im Frühjahr Knospen austreiben lassen und wann wir im Herbst das Laub bunt färben.“ Und sie wählten eine alte Eiche zu ihrem König. Obwohl nun Bäume recht langsam wachsen, hatte der König viel zu tun. Er musste jedem Baum sagen, wohin er welchen Ast wachsen lassen und wann welches Blatt entrollen sollte. Er musste entscheiden, wer wie viel Wasser aus dem Boden entziehen durfte, und – was noch schwieriger war – wer wie viele Nährstoffe zu sich nehmen durfte. Nach kürzester Zeit begann der ganze Wald unter Pilzen und Parasiten zu leiden, ein Teil trocknete ein und ein anderer litt an der Wurzelfäule. Die Bäume begannen aufeinander zu schimpfen und zu streiten. Der König beschimpfte sein Volk als ungehorsam, das Volk den König als unfähig und sie alle einander als Dummköpfe und gemeine Schurken.
An einem schönen Julitag – das Laub begann gerade zu fallen – dankte der König ab. Da waren alle Bäume froh. Sie feierten ein großes Fest. Und von Tag zu Tag wurde es besser mit ihnen.

2 Gedanken zu „Der König des Waldes

  1. Aber wie schafft man es „seinen König“ zum abdanken zubringen ?

    Wenn ich mal davon ausgehe, dass „der König“ ich bin… weil ich meine Gedanken versuche vom „Zwang“ wegzusteuern…
    wie schaffe ich es dann dem „Zwang“ nicht nachzugeben ??

    Judith

  2. Du bist nicht nur König, du bist auch Wald. Den Zwang betreffend: Er wird schwächer, wenn du ihn intensivierst, absichtlich zeigst, ihn absichtsvol abwandelst, mit ihm Schabernack treibst, ihn für irgendetwas einsetzt, ihn lobst oder anderweitig aktiv gestaltest. Er wird gestärkt, wenn du etwas gegen ihn tust.
    Das ist am Anfang schwierig, umzusetzen, aber, je mehr man merkt, dass es klappt, desto akzeptabler wird es für die Seele, das scheinbar Schlechte zuzulassen und es dadurch von selbst schrumpfen zu lassen. Ein Zwang wird nur deshalb so riesig-wichtig, weil er sich gegen rigide (für positiv gehaltene, aber auch recht diktatorische) Werte durchsetzen muss, die ihn so verbieten. Wenn die Persönlichkeitsanteile tolerant sind, Multi-Kulti zulassen und selbst ein bisschen Zwang da sein darf, ist anschließend weniger Zwang nötig, als wenn im Kopf das Gute das Böse ausrotten will.

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