Schleuderkurs

Meine Schweizer Kollegin Catherine Iseli hat in einem Forum erzählt von einer Schweizer Radiosendung mit dem Titel „Schleudern ohne ins Schleudern zu geraten“ über „Autofahren unter erschwerten Bedingungen“ (Radio DRS1, 12.4.2010, 9-11 Uhr).

Catherine berichtete:

Eine Abteilung der Zürcher Polizei musste einen Auffrischungskurs besuchen, und der Polizeiinstruktor gab dann im Interview Auskunft darüber, welches die entscheidenden Dinge seien, die man trainieren müsse, um in einer  Extremsituation mit seinem Wagen nicht ins Schleudern zu geraten. Der  Instruktor sagte sinngemäss:

„Das Wichtigste, was man trainieren muss, ist der Blick. Menschen tendieren in einer Gefahrensituation dazu, in Panik zu geraten, die Übersicht zu verlieren. Der Blick geht dann dorthin, wo das Hindernis  ist und die Gefahr droht. Die Hände lenken das Fahrzeug in die Richtung, in die der Blick geht. Das erklärt auch, weshalb viele  Schleuderfahrten an einem Baum, einem Laternenpfahl, Pfosten etc. enden,  auch wenn sonst weit und breit kein Hindernis ist.
Es gilt also, zu trainieren, den Blick und die Aufmerksamkeit in die  Richtung zu richten, wo keine Gefahr droht, wo freie Fahrt möglich ist, also in die gewünschte Richtung. Wenn der Blick dorthin geht, dann folgen die Hände automatisch und tun das Richtige, um den Wagen aus der Gefahrenzone zu bringen.“

Sie sagt:

Psychotherapie ist wie Autofahren unter erschwerten Bedingungen;  unsere Klienten brauchen einen Antischleuderkurs, und sie müssen  lernen, „den Blick“ zu trainieren…

Danke, Catherine!

Wellenreiten

Wenn ich in der Flut der Probleme stecke, als bedrohter Mensch oder als Helfenwollender, dann kann es wichtig sein, nicht zu sehr gegen die Probleme zu kämpfen, da, wo sie übermächtig sind. Das verbraucht sehr viel Energie. Wenn es mir gelingt, stattdessen nur da zu handeln, wo ich Energiereserven und Gestaltungsmöglichkeiten bemerke, spare ich Kraft. Wenn ich im Spüren der Möglichkeiten bleibe – manchmal kann ich die Kraft des Problems für eine Rettung nutzen.

Als Kinder badeten wir einmal an einem Strand mit einer starken Brandung. Zwei Meter und noch höher türmten sich die Wellen, bevor sie donnernd auf dem Sand zerbrachen. Um nicht von ihnen umgeworfen zu werden, lernten wir, uns von den Wellen emporheben zu lassen. Es galt, auf eine solche Welle zu warten, bis ihre Schaumkrone beinahe über uns stand. Sprangen wir zu früh, dann sanken wir in die Welle hinein. Dann mussten wir lange die Luft anhalten, bis die Welle mit ihrer Wucht vorüber war. Sprangen wir zu spät, konnte es passieren, dass wir gar nicht mehr nach oben kamen. Die Welle presste uns mit auf den Strand. Wir lagen hilflos auf dem Grund, bis sie vorüber war. Sprangen wir aber in dem Augenblick, wenn die Welle uns ein klein wenig nach oben hob und nutzten wir ihre Kraft für unseren Sprung, dann trug sie uns hoch bis auf ihren Kamm, zog mit einem kleinen Platsch an unserem Gesicht vorbei und ließ uns sanft auf ihrem Rücken zu Tal gleiten. Allmählich lernten wir, Welle um Welle zu meistern.

Am Grund des Flusses

Ab und zu wird jemand mit ins Unglück gezogen und kann dennoch Helfer sein, wenn er kühlen Kopf behält und die Lösung diktiert. Das Motto ist wohl: Hektik vermeiden, autoritär auftreten, nicht lange warten. Und Selbstschutz hat Vorrang: Wenn der andere im Unglück bleibt, rette ich mich trotzdem.

Diese Geschichte hat sich vor Jahren in Heidelberg abgespielt.

Auf einem Parkplatz am Fluss übte ein Fahrlehrer mit seinem Schüler das Einparken. Der Fahrschüler stieß zurück, gab kräftig Gas – und Augenblicke später fanden sich beide auf dem Grund des Flusses wieder. „Ruhig bleiben!“ sagte der Lehrer. „Lass die Tür zu! Schnall dich ab! Drehe das Fenster nur ein ganz kleines bisschen herunter, so dass bloß wenig Wasser auf einmal hereinkommt!“ Langsam füllte sich die Fahrerkabine mit Wasser, während die beiden Menschen am Grund des Flusses warteten. Als ihnen das Wasser bis zum Hals stand, sagte der Lehrer: „Jetzt öffnen wir die Tür und schwimmen nach oben!“ Die Rettung gelang – Lehrer und Schüler überlebten.

Fast zu spät und nicht zu früh

Aus dem Artikel „Dringend“ vom 17. Februar hat sich ein Gespräch darüber ergeben, wie man jemandem helfen kann, dem scheinbar nicht zu helfen ist, und wie man dabei verhindern kann, selbst immer tiefer in das Problem hinein gezogen zu werden. Aus diesem Grund schreibe ich in den nächsten Tagen ein paar Gedanken dazu. Ich fange schon mal an.

Ein Rettungsschwimmer sagte zu mir: „Wenn ein Ertrinkender in Panik um sich schlägt, kannst du ihn nicht ans Ufer bringen. Du musst warten, bis er nicht mehr schlägt. Dann kannst du ihn retten.“

Wenn Geschichten heilen

Ich habe euch schon erzählt von Doc Ramadanis Energiebrief. Das ist ein Blog, der das Ziel hat, Menschen, die anderen gut tun, gut zu tun. Der Leitsatz der Seite ist: „Wer Energielieferant ist, ist verpflichtet, sein Energiedepot regelmäßig wieder aufzufüllen.“ Ihr Verfasser, Dr. Marco Ramadani aus Neu-Ulm, hat mich am letzten Montag besucht und interviewt. Eigentlich ist er Arzt und Hypnotherapeut, an diesem Tag aber hat er mich auch durch sein journalistisches Talent beeindruckt, besonders durch die gelassene und gleichzeitig sehr lebendige Art seiner Gesprächsführung. Ich finde, es ist ein schönes, lebendiges  Gespräch geworden. Entstanden ist ein Dialog über therapeutische Geschichten, warum und wie sie wirken, wie man sie einsetzt, wie man sie erzählen kann und darüber, wie sie ein Leben verändern. Gestern hat er das Interview in seinem Blog unter dem Titel „Wenn Geschichten heilen“ veröffentlicht. Wer die Aufnahme gerne hören möchte, findet sie hier in Marco Ramadanis Blog.

Dringend

Vor anderthalb Wochen rief mich ein Mann an und sprach mir auf Band, ich möge ihn bitte zurückrufen. Es sei dringend. Es sei wichtig. Ich solle ihn anrufen, ganz dringend. Er wolle ein Problem mit mir besprechen, es sei sehr wichtig.

Ich versuchte ihn zurückzurufen, erreichte ihn aber nicht. „Die Leute, die sich so ankündigen, sind meistens die, die dann beim ersten Termin einfach nicht zur Therapie erscheinen“, sagte ich zu meiner Freundin. „Bei ihnen ist alles dringend, und gerade deswegen ist nichts wichtig, weil – es kann immer etwas anderes Dringendes dazwischenkommen.“ Ich habe dann vergessen, es wieder zu probieren, ihn anzurufen.

Heute früh habe ich dort angerufen. Mein Anrufbeantworter war voll, also wollte ich die nicht mehr benötigten Mitteilungen löschen und habe dabei den Spruch auf Band wieder gefunden. Die Freundin des Mannes war am Telefon. „Er ist tot“, hat sie gesagt. „Vor zwei Tagen hat er sich das Leben genommen.“

Geschichten mit Langzeitwirkung

Als wir Kinder waren, hatten meine Schwester und ich eine bestimmte Gewohnheit. Wenn wir bei Großelternbesuchen morgens erwachten, meistens zwischen fünf und sechs Uhr, stiegen wir zu meinem Großvater ins Bett und drückten mit dem Finger auf einen Knopf seines Schlafanzugs. Dort befand sich nämlich der Schalter für die Geschichten. Einige dieser Geschichten hatte er gehört und einige gelesen, manche waren selbst erlebt und andere frisch erfunden. Eine Erzählung gab es, die ich wieder und wieder von ihm hören wollte. Das war die Geschichte vom verlorenen und wieder gefundenen Schaf aus dem fünfzehnten Kapitel des Lukasevangeliums. Mein Großvater mochte sich fragen, warum er mir diese Geschichte so oft erzählen musste, aber er tat es immer wieder für mich. Ich brauchte diese Geschichte. Es war meine Geschichte. Zwei wichtige Passagen gab es in seiner Erzählung, die jedes Mal wiederkehrten: Wie der Hirte nach langem Suchen und Rufen die erste Antwort seines Schafs erhielt, und sich das Rufen des Hirten und das „Mäh“ des Schafes abwechselten, bis er sein Schaf gefunden hatte –  und wie er es fand: Das Schaf war tief in einen Dornbusch verstrickt. Es konnte nicht mehr vorwärts und nicht mehr rückwärts gehen. Vorsichtig befreite der Hirte das Tier…
Diese Geschichte hat mich durch die Kindheit begleitet. Als ich erwachsen war, hat sie mir als erste deutlich gemacht, dass Geschichten eine therapeutische Kraft haben, in einem Maß, das wir vermutlich noch oft unterschätzen. Diese Geschichte ist zweitausend Jahre alt. Sie wurde aufgeschrieben, weil sie ihren Zuhörern geholfen hat und beeinflusst noch heute das Denken und Erleben von Menschen.

Geschichtenerfinder-Seminar

Vom 23. – 25. Juli 2010 halte ich bei der Sommerakademie auf der Bodenseeinsel Reichenau ein Geschichtenerfinder-Seminar als Intensivwochenende für Therapeuten und Beratende. Der Preis liegt ebenfalls bei 280 €. Den Seminarablauf könnt ihr auf der Webseite der Sommerakademie einsehen.

Therapeutisch wirksame Geschichten und Metaphern sind seit Menschengedenken Bestandteil der Beratung in vielen Kulturen. Die Psychotherapie hat diese effektive Herangehensweise in der letzten Zeit wieder entdeckt. Erzählt wird oft aber mehr „aus dem Bauch heraus“ – weithin fehlen schlüssige Konzepte für das therapeutische Erzählen.

Wie finde ich also die rechte Geschichte zur rechten Zeit? Was wirkt an therapeutischen Metaphern? Wie konstruiere ich therapeutische Geschichten planvoll und wie erzähle ich sie?

Ziel des Seminars ist es, zu lernen, wie man…

  • therapeutische Metaphern für Klientinnen und Klienten entwickelt
  • jederzeit Geschichten für einzigartige Lebenssituationen entwickelt
  • Therapeutische Erzählungen formuliert und ins Gespräch einbettet
  • Problemmetaphern von Klienten in Lösungsmetaphern umwandelt
  • durch Geschichten ermutigt, warnt und Suchhaltungen aktiviert.

Schwer hypnotisierbar

Ich habe einen Klienten hier gehabt, der mich bat, ihn in Hypnose zu versetzen. Er denke allerdings, er sei schwierig hypnotisierbar. „Das denke ich nicht“, habe ich gesagt und habe mit der Arbeit angefangen. Beim ersten Versuch (Augenfixation und Augenschlussinduktion) hat er nur den Kopf geschüttelt: „So geht das nicht.“ Beim zweiten Anlauf (verbale Verwirrungsinduktion) öffnete er nach kurzer Zeit die Augen und sagte: „Anfangs hat’s geklappt, aber dann musste ich an die ganzen belastenden Situationen aus den letzten Tagen denken, und dann war ich ganz wach…“ Beim dritten Mal ließ ich ihn in einer Art Kino die betreffenden Situationen anschauen und mit einer Fernbedienung alles Mögliche regulieren. Das klappte für eine Weile, dann war er wieder wach. „Ich bin wohl ein schwieriger Fall“, meinte er. „Ach nein“, sagte ich, „man muss nur für jeden Menschen die zu ihm passende Methode finden“. So ganz sicher war ich mir da inzwischen aber nicht mehr. Beim nächsten Anlauf bat ich ihn: „Achten Sie bitte darauf, dass Sie möglichst wach bleiben, bitte ganz hellwach, und bitte geben Sie sich Mühe, und konzentrieren Sie sich bitte darauf… Nein, bitte schließen Sie die Augen nicht, Sie müssen möglichst wach bleiben. Nein, halten Sie sie bitte noch offen, sie können sie später schließen, wenn Sie wollen…“ Eine Minute später schlief er tief und fest.