Schießübung

Als ich ein Kind war, hat mir mein Großvater die folgende Geschichte erzählt:

„Zur Vorbereitung auf den Krieg machten wir Schießübungen. Einige Kameraden schossen so oft wie möglich ins Schwarze. Sie kamen an die Front. Die meisten von ihnen starben. Andere Kameraden schossen absichtlich daneben. Sie überlebten den Krieg.“

Ich erzähle die Geschichte manchmal Leuten, die sich durch ihr berufliches Engagement möglicherweise selber schaden. Man kann sie auch Menschen erzählen, die sich ritzen, und ebenso Leuten, die auf andere Art sich oder andere verletzen – körperlich oder seelisch. Dann enthält die Geschichte die Aufforderung an das Unbewusste, die längst bestehende Ambivalenz zwischen Verletzen und Nicht-Verletzen so zu regeln, dass man – wenn überhaupt – nur dem Anschein nach verletzt, ohne die Absicht zu verfolgen, zu treffen. In einigen Mobbingsituationen ergibt die Geschichte ebenfalls viel Sinn.

Begründeter Therapieabbruch

Letzte Woche hatte ich ein erstaunliches Gespräch. „Ich habe die Therapie bei Ihnen vor einem halben Jahr bei Ihnen abgebrochen, weil ich mich über Sie geärgert habe“, sagte zu mir eine Frau am Telefon. Aber letztlich ist dabei etwas herausgekommen, was mir geholfen hat. Nun hat diese positive Wirkung nachgelassen, und ich möchte fragen, ob ich noch einmal kommen kann, um den Effekt bei Ihnen aufzufrischen.“ „Das können Sie“, antwortete ich. „Was wäre denn dann das Ziel der Therapie?“ „Sie hatten mich damals bedroht, indem Sie mir erzählten, dass man von dem vielen Erbrechen Speiseröhrenkrebs bekommen kann“. Ich erinnerte mich: Ich hatte der Klientin von den trachiotomierten Patienten erzählt, wie ihre medizinische Behandlung abläuft, wie sie reagieren und wie man mit ihnen kommunizieren kann. Ich hatte ihr auch erzählt, was der unterschied zwischen einer Kanüle zum Atmen frisch nach der OP und einer Sprechkanüle ist, wie es gluckert, wenn die Patienten husten oder zu reden versuchen, wie der Schleim und das Blut aus den Röhrchen kommt und wie man die Flüssigkeit absaugt. Die Patientin fuhr fort: „Nach der letzten Therapiestunde konnte ich mich nicht mehr übergeben, und nachdem das nicht mehr ging, waren mir die Eßattacken auch nicht mehr möglich. Nach einer Weile merkte ich, dass das meinem Selbstbewusstsein gut tut, und es fing an, mir so zu gefallen. Mein Vater hatte Krebs. Inzwischen ist er verstorben. Ich habe jetzt nach einem halben Jahr wieder etwas mit der Bulimie angefangen. Ich habe keine Angst mehr vor dem Krebs, aber ich möchte den Effekt auffrischen, damit ich wieder frei werde.“

Nichts

Gestern sprach mich ein Bekannter in einer E-Mail auf die logische Wirklichkeit oder Unwirklichkeit von „Nichts“ an. So habe ich mir meine Gedanken über „Nichts gemacht. Einige davon möchte ich mit euch teilen.

In der systemischen Therapie fragen die Therapeuten öfter: „Was tun Sie, wenn Sie ’nichts‘ tun?“ Und sie bestehen darauf, zu erfahren: „Was sehen, hören, fühlen, denken Sie dann? Wie würde ein anderer Sie beschreiben, der Sie erlebt in einer Phase, in der sie sagen würden, dass Sie ’nichts‘ tun?“ Ermittelt wird also, was jemand stattdessen tut, wenn er „nichts“ tut. Es handelt sich also um ein ähnliches Phänomen wie das von Paul Watzlawick beschriebene: „Man kann nicht nicht kommunízieren“.

Eine Sicht ist, dass „Nichts“ ein Konstrukt ist, das übersieht, dass die Abwesenheit einer Sache oder Tat immer die Anwesenheit einer anderen impliziert. Wenn es gelingt, die Sache oder Tat zu beschreiben, die dann stattdessen da ist, ist oft viel gewonnen.

Also müssten wir sagen, Weiterlesen

Das sich selbst auflösende Symptom

„Ich habe eine seltsame Beobachtung gemacht“, so erzählte ich dem Mann am Telefon. „Vor einiger Zeit nämlich sagte ein Kollege zu mir: ‚Wenn ich ein telefonisches Vorgespräch wegen einer Therapie führe, dann sage ich oft zu den Leuten: Ein bekannter Therapeut hat beobachtet, dass die meisten Klienten bereits eine Verbesserung ihrer Probleme in der Zeit zwischen dem telefonischen Vorgespräch und der ersten Therapiestunde erleben. Ich stelle fest, dass bei etwa 70 – 80% der Klienten bereits bis zur ersten Therapiestunde eine Verbesserung eintritt. Ich möchte Sie deshalb bitten, dass Sie bis zu unserem Treffen darauf achten, ob es sich bei Ihnen ebenso verhält.’ Soweit die Worte meines Kollegen. Ich habe mir nun überlegt, ob der Effekt nur bei psychischen Symptomen auftritt oder auch bei körperlichen. Weiterlesen

Vom Segen der Überarbeitung

Oft habe ich mich gefragt, warum einige Menschen pausenlos hektisch erscheinen und stets einen dicht gefüllten Schreibtisch und Kalender haben und immer wieder von Überarbeitung reden, und doch im Ergebnis nicht mehr leisten als andere, denen Zeit für Pausen und Erholung übrig bleibt.
Es scheint so, dass Überarbeitung ein guter Schutz ist. Zum einen macht das Herumwirbeln einen äußerst wichtigen Eindruck – wer so am Schaffen ist, wirkt geradezu unentbehrlich. Wer überarbeitet ist und schon klagen muss über die Last des Geleisteten, dem wird man leichter ein paar Fehler nachsehen. Er darf hoffen, als bewunderns- oder bedauernswert betrachtet zu werden. Wenn ein solcher Mensch mit seiner Arbeit nie ganz fertig wird, wird sie womöglich dann an andere weitergeleitet. Zumindest kann er erwarten, von neuen Aufträgen abgeschirmt zu werden. Im Laufe der Zeit wird sein Aufgabengebiet immer enger beschrieben werden oder zumindest dürften nicht viele neue Aufgaben hinzukommen. Andererseits wird er dafür sorgen, dass ihm nicht zu viel Arbeit abgenommen wird, so dass ihm die Vorteile der Überlastung womöglich abhanden kämen. Wenn Entlassungen drohen, wird ein Mensch, dessen Arbeit schon wegen ihrer Menge ins Auge fällt, gern für unabkömmlich gehalten. Doch auch als Selbständiger oder als Beamter bleibt ihm das gute Gewissen, alles Leistbare getan und gewiss nichts versäumt zu haben, indem er die verfügbare Zeit möglichst restlos mit seinen Tätigkeiten gefüllt hat.
Wie viele Nachteile hätte es aber, dasselbe Ergebnis in kürzerer Zeit zu erreichen und sich womöglich zwischendurch ein wenig auszuruhen oder Konzepte auszuarbeiten, wie die Arbeit noch entspannter noch effektiver geleistet werden könnte. Da blieben Neid und Anfeindungen nicht aus! Doch schlimmer wäre der Kampf des Gewissens mit jener unheilvollen inneren Stimme: „Wer Pausen macht, ist faul.“ Ich bin überzeugt: Wer möglichst entspannt und mit dem geringsten Aufwand viel erreichen will, der braucht eine große Portion Charakter.

S. Hammel, Der Grashalm in der Wüste, S. 29.

Wozu Freunde?

Mit Herrn Gundolf unterhielt ich mich über eine Frau, die für ihren Mann alle Freunde aufgegeben hatte und die sich fragte, ob sie ihren Mann noch liebte. „Wenn diese Frau sich trennen will, dann braucht sie Freunde“, sagte Herr Gundolf, „sie schafft es sonst nicht“. „Wenn sie bleiben will, dann gilt das Gleiche“, sagte ich.

Mottenphobie

Gestern war ich bei Freunden zu Besuch. „Unsere Tochter hat eine Mottenphobie“, erzählten sie mir. „Jedesmal, wenn sie eine Motte in der Wohnung sieht, bekommt sie einen Schreianfall, und es gibt ein Riesentheater. Kannst du nicht etwas dagegen tun?“ „Ich weiß nicht, ob ich das kann“, sagte ich zur Tochter, die bei uns saß und gerade ein Glas Kakao trank. „Aber wenn du das nächste Mal eine Motte siehst, denke bitte nicht an Kakao und denke auch nicht daran, nicht an Kakao zu denken und nicht daran, wie dieser Kakao jetzt schmeckt und nicht daran, welches Gefühl in der Seele zum Kakao gehört, denn solltest du doch an Kakao und an das Gefühl in der Seele denken, das du jetzt durch das Trinken von Kakao bekommst, dann könnte es sein, dass du aus Versehen, obwohl du das vielleicht gar nicht vorhast, bei Motten Kakaogefühle bekommst. Und was wirst du dann tun, wenn du bei Motten anstatt des früheren lästigen Gefühls immer einen Anflug eines Eindrucks haben solltest, als ob du Kakao schmeckst und riechst und als ob du die Gefühle bekommen könntest, die doch eigentlich zum Kakao passen. Ja, was machst du dann?“ „Ist mir egal.“ „Oh“, sagte ich, „dann pass bitte auf! Denn wenn es dir egal ist, ob du bei Motten immer Kakaogefühle bekommst, dann musst du aufpassen, dass dir dabei nicht die Motte selbst egal wird, denn es wäre doch schade, wenn dir die Motte so egal würde, wie es dir egal ist, dass du bei Motten vielleicht Kakaogefühle bekommst…“ Eine Viertelstunde später sah das Mädchen eine Motte, ging ruhig darauf zu, schaute sie konzentriert an, schlug sie tot und setzte sich gelassen wieder hin.

Die Welt, eine Eschertreppe

Wir sehen den Geist als neurologische Leistung, das heißt, als Ergebnis materieller Konstellationen: Geist ist dann das Produkt der Materie und ihrer Gesetze.

Wir sehen ebenso die Materie als geistige Interpretationsleistung, als Konstrukt unseres Geistes: Unser Körper, unser Gehirn und alle Dinge sind dann das Produkt des Wahrnehmens und Interpretierens.

Unsere Gedanken deuten die Gesetze der Natur, die unsere Gedanken hervorbringen, die die Gesetze deuten, die die Gedanken hervorbringen…

Unsere Wahrnehmung bemerkt unseren Körper, der unsere Wahrnehmung hervorbringt, die unseren Körper bemerkt, der unsere Wahrnehmung hervorbringt…

Die Welt, eine Eschertreppe…

Weihnachtsglöckchen

Heute habe ich von einem Haken an der Decke ein Weihnachtsglöckchen entfernt. Das Stück hatte sich in meinen Augen so der Umgebung angepasst, dass ich es all die Monate gar nicht mehr bemerkt hatte. Ich hatte es einfach nicht mehr wahrgenommen. Das letzte Stück Weihnachtsdekoration – ist es wirklich das letzte Stück?