Schaufensterkino

Die folgende Geschichte erzähle ich manchmal Jugendlichen, die zwar klug sind, aber sehr auf sich fixiert und darum nicht so sehr sozial orientiert. Nächste Woche möchte ich sie einmal bei einem sechzehnjährigen autistischen Jungen ausprobieren. Mal sehen, was passiert…

Es regnete. Keine Schule heute. Wie jeden Samstagvormittag stand sie hinter der Glastheke, in der die Brötchen, Kuchen und anderen Backwaren zum Verkauf auslagen. Durch das Schaufenster sah sie, wie der Wind die Blätter von den Bäumen fegte und in der Straße verwirbelte. Vor dem Laden kämpfte eine Frau mit ihrem Regenschirm. In dicken Buchstaben stand darüber die Inschrift: ,,Bäckerei Müller“. In Spiegelschrift natürlich, für jemanden, der drinnen stand. Wenn sie alleine war und keine Kunden zu bedienen hatte, stellte sie sich gerne vor, dieses Schaufenster sei eine Kinoleinwand und das, was sie dahinter sah, sei nur ein Film. In ihrer Fantasie veränderte sie dann die Szene. Aus den Autos wurden Kutschen, aus den Blättern Vögel und aus der Frau mit dem Regenschirm zum Beispiel ihre Mutter, wie sie mit einem wilden Drachen kämpfte. Dieses Bild amüsierte sie jetzt ganz besonders. Ihre Mutter, die alles falsch verstand, die ihr das Wort im Mund herumdrehte, die aus Gutem Böses machen konnte und aus böse gut, sie würde wahrscheinlich auch den Kampf gegen einen Drachen bestehen oder mindestens ein ,,Unentschieden“ erreichen. Bis zum nächsten Kampf.
Die Frau mit dem Regenschirm war längst verschwunden. Nun stellte sie sich vor, was sie denn gerne auf diese Schaufensterscheibe schreiben würde, anstatt des langweiligen Schriftzugs: „Bäckerei Müller“. Wie wäre es mit „Du bist mir wichtig“, „Ich mag dich trotzdem“, oder: „Ich ärgere mich, weil ich dich liebe“? Vielleicht auch: „Ich ärgere dich…“. Sie grinste ein wenig bei dem Gedanken. Sie malte sich aus, wie diese Inschriften auf der großen Scheibe wirken würden. Alle, die an der Bäckerei vorübergingen, könnten sie lesen, auch ihre Mutter. Sie sah vor ihrem inneren Auge die Inschrift: „Du bist mir wichtig.“ Ob ihre Mutter sie dann endlich verstehen würde? Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter vor dem Schaufenster stand, die Stirn runzelte und den Kopf schüttelte. Da kam ihr der Gedanke: „Du musst deine Worte in Spiegelschrift anbringen.“

Fräulein Gehirn

Hier noch ein Nachtrag. Das ist eine zweite Geschichte, die ich Anna in ihrer ersten Therapiestunde erzählt habe. Seitdem unterhält sie sich öfter mit ihrem Gehirn – etwas, was wir vielleicht alle manchmal tun sollten.

Du weißt natürlich, dass du ein Gehirn hast, und dass es denken kann, nicht wahr? Hast du schon einmal mit deinem Gehirn gesprochen? Nein? Dann ist ja heute Zeit, um damit anzufangen. Wie heißt denn dein Gehirn? Ist es ein Mann oder eine Frau?
Sehr gut… Du kannst also zu deinem Gehirn sagen: „Guten Tag, Fräulein Gehirn!“ und bestimmt wird es antworten: „Guten Tag, liebe Anna“. Du kannst es fragen: „Liebes Fräulein Gehirn, könntest du mir dabei helfen, mich immer zu konzentrieren, wenn meine Lehrerin die Hausaufgaben erklärt?“, und Fräulein Gehirn wird dir antworten: „Natürlich kann ich das, liebe Anna, du hast mich nur noch nie danach gefragt.“ „Ach so“, kannst du dann sagen, „dann bitte ich dich jetzt darum. Würdest du mich bitte immer wach und konzentriert sein lassen, wenn die Lehrerin die Hausaufgaben erklärt, liebes Fräulein Gehirn?“ „Aber selbstverständlich, liebe Anna!“

Annas U-Boot

Hier eine Geschichte zu einem Kind namens Anna, das ich neulich kennenlernen durfte. Der Effekt des beschriebenen Vorgehens war durchschlagend, also, Mutter und Tochter waren mit dem Ergebnis der ersten Therapiestunde sehr glücklich. Anna hat angefangen, Freundschaften zu knüpfen kann sich in der Schule besser konzentrieren und bekommt viel mehr von ihrer Umgebung mit.

Anna träumt. Sie geht in die vierte Klasse, und sie träumt. Sie kommt nach Hause, und sie träumt. Sie lebt in ihren Träumen. Sie lebt so sehr darin, dass niemand so recht zu sagen weiß: Ist sie begabt oder nicht, ist sie einfältig oder subtil, schüchtern oder gehemmt, nur introvertiert oder psychisch gestört. Anna scheint glücklich in dieser Welt – oder ist sie nur dort, weil sie draußen sehr unglücklich wäre? Ist Anna krank, oder einfach nur ungewöhnlich? Auf welche Schule soll sie gehen, und wie kann sie am besten gefördert werden? Die fragenden Eltern kommen mit ihr zur Therapie.
„Du lebst also in einem U-Boot“, sage ich zu Anna. Fragend schaut sie mich an.
„Du tauchst unter und lebst in einer bunten Welt von Fischen und Korallen, von lauter bunten Sachen, die die Leute da oben nicht kennen. Kann man das so sagen?“ „Ja“, sagt Anna.
„Es ist bestimmt schön da unten. Du kannst in Ruhe den Meeresgrund erforschen, und kein Mensch kann dich dabei stören.“ „Das stimmt“, sagt Anna.
„Du kannst Tiefseeforscherin werden. Das sind Leute, die im Auftrag der Menschen da oben die Welt da unten erforschen. Sie finden alles heraus über die Tiere und Pflanzen des Meeres.“ „Das ist schön“, sagt Anna.
„Natürlich haben alle U-Boote ein Periskop. Das ist ein Rohr mit einem Spiegel, so dass man von unten aus immer sehen kann, was oben passiert.“ „Und damit kann ich die anderen beobachten“, sagt Anna.
„Genau. Natürlich willst du auch nicht unter Wasser mit anderen U-Booten oder Schiffen zusammenstoßen. Darum hast du ein Sonarsystem. Das sendet Schall aus, damit du weißt, wann du anderen zu nahe kommst, also, wann du anderen U-Booten und Schiffen ausweichen musst und wann du besser auftauchen solltest.“ „Muss ich denn auftauchen?“, fragt Anna.
„Na ja, du kennst das ja: Wenn du mit anderen zusammenstößt, ist das sehr unangenehm. Beide Schiffe können Schaden leiden, auch wenn der Zusammenprall gar nicht beabsichtigt war. Besser ist es, wenn du einen Unfall vorhersehen kannst und rechtzeitig ausweichst oder erst einmal auftauchst. Um frühzeitig zu reagieren, brauchst du auch ein Mikrofon, das die Signale der Schiffe aufnimmt. Und du brauchst ein Funksystem, um auch, wenn du untergetaucht bist, mit der Besatzung anderer U-Boote und Schiffe reden zu können.“ „Ja, das ist gut. Dann stoße ich nicht mehr mit ihnen zusammen.“
„Genau. Natürlich muss jedes U-Boot auch ab und zu auftauchen.“ „Warum denn?“ „Na, du brauchst doch Sauerstoff, und Essen und Trinken. Du musst ab und zu auftauchen, um das mit an Bord zu nehmen.“ „Ja, das stimmt.“
„Bei Forschungsreisen ist es auch so, dass das U-Boot regelmäßig auftaucht, um mit den Menschen oben zu besprechen, was es unten erforschen soll.“ „Ach so?“
„Natürlich. Das U-Boot hat den Auftrag, herauszufinden, was dort unten passiert, und um den Menschen über der Wasseroberfläche davon zu erzählen.“ „Kann das U-Boot auch auf andere schießen?“
„Klar hast du Torpedos, aber die setzt man ja nur gegen feindliche Schiffe ein, und nur, wenn es unbedingt sein muss. Besser ist, man spricht miteinander über Funk, oder man taucht auf und benutzt das Megaphon: ‚Hallo, ich habe eure Signale gehört und bin aufgetaucht. Was gibt es Wichtiges bei euch?’ Richtig gute U-Boot-Kapitäne sind oft unter Wasser und oft über Wasser. Sie kennen die Signale der anderen Schiffe so gut, dass sie immer wissen, wann es besser ist, aufzutauchen und wann es besser ist, unterzutauchen, und wann es gut ist, so halb über dem Wasser und halb unter dem Wasser zu sein. Etwa so wie ein Krokodil, das nur die Augen, die Ohren und die Nasenlöcher über dem Wasser hat. So ist es gut getarnt und kann schnell untertauchen, wenn es möchte, und doch bekommt es alles mit, was über dem Wasser passiert. Auch U-Boote schwimmen manchmal ganz knapp unter der Oberfläche, so dass nur der Kommandoturm herausschaut. Auf diese Art bekommen sie alles mit von dem Leben über dem Wasser. Sie hören alle Signale, die für sie wichtig sind und sehen alles, was für sie nützlich ist. Wenn sie aber untertauchen wollen, dann sind sie ganz schnell drunten.“ „Cool“, sagt Anna. „Das gefällt mir.“
Natürlich hat die Kapitänin eines solchen U-Boots manchmal Urlaub. Wenn U-Boot-Kapitäne Urlaub haben, dann sind sie an Land. Sie treffen sich mit ihren Freundinnen und Freunden, erzählen ihnen von ihren Reisen und hören zu, was die anderen erlebt haben. Ich kannte einen Kapitän, der flog in seiner freien Zeit mit einem kleinen Wasserflugzeug herum. Er schaute sich von oben an, was er ansonsten oft von unten her gesehen hatte: Das Land und das Wasser, die Schiffe, die U-Boote und all die anderen Dinge. Und wenn er alles gesehen hat, dann landete er wieder, oder wasserte, wie das die Wasserflieger nennen. Er kannte die Welt von allen Seiten, und er war ein sehr glücklicher Mensch.“ „Cool“, sagt Anna. „Das möchte ich gerne machen“.

Erickson-Geschichten XII

Erickson erzählt: Ich bekam einen Brief von meiner anderthalbjährigen Enkelin. Ihre Mutter hatte ihn geschrieben. Die kleine Jill war zum ersten Mal im Schwimmbad gewesen. Und sie hatte geweint, als ihr Fuß nass wurde. Sie weinte und klammerte sich an ihre Mutter alsw ihre Hand nass wurde. Und schließlich weinte und schrie sie und klammerrte sich so fest, bis ihre Mutter Jill die ganze Sache in die Hand nehmen ließ. Nun plant sie ihre nächste Fahrt zum Schwimmbad und bringt ihrer Mutter bei: „Lass mich auf meine Weise damit fertigwerden.“ Alle meine Enkel gehen auf ganz unterschiedliche Weise, aber mit großer Entschlossenheit an das Leben heran. Wenn sie etwas tun möchten, tun sie es, aber sie tun es auf ihre Weise. Und die Mütter können das bis ins Detail beschreiben. Ich bewahre ihre Briefe auf, u´nd später sollen sie für die Kinder gebunden werden, wenn sie sechzehn oder siebzehn Jahre alt sind und die mangelnde Intelligenz ihrer Eltern beklagen.

S. Rosen, Die Lehrgeschichten von Milton H. Erickson, Salzhausen (iskopress) 2000, S. 312f.

Grashalm-Geschichten im Onlinemagazin KidsLife

Das Elternmagazin „KidsLife“ (Aufl. 255.000 in D, A, CH) hat in seine Online-Ausgabe seit Herbst 2007 die Sparte „Die therapeutische Geschichte“ übernommen. Darin wird regelmäßig eine Geschichte aus dem Buch „Der Grashalm in der Wüste“, aus HYPS oder frisch aus dem PC des Verfassers präsentiert. Die Geschichten für Eltern und Kinder sind zu finden unter www.kidslife-magazin.de.

Das Unterrichtsfach „Glück“

An der Heidelberger Willy-Hellpach-Schule wird jetzt erstmals das Unterrichtsfach „Glück“ angeboten.

Der Schulleiter, Ernst Fritz-Schubert, hat das Unterrichtsfach erfunden und mit einer Arbeitsgruppe ein Unterrichtskonzept entworfen. Er hat das Kultusministerium Baden-Württemberg überzeugt, das aber lieber konservativ von „Lebenskompetenz“ spricht, statt von „Glück“. Das Fach wird sowohl an der zweijährigen Berufsfachschule als auch am Wirtschaftsgymnasium angeboten. Das Interesse am Unterrichtsfach „Glück“ ist groß, mehr als 50 Schüler und Schülerinnen haben sich bereits angemeldet. Der Lehrplan greift weit in die Abenteuer des Alltags hinein. Es geht um Sinnfindung, um Gesellschaft, Gemeinschaft und Umwelt, um Esskultur, Erfahrung der Leistungsgrenzen, Gruppenerlebnisse und Körpersprache. Der Unterricht des Fachs „Glück“ gestaltet sich anders als ein herkömmliches Fach. Es wird Theater gespielt, Betriebe werden besichtigt, Konzentrations- und Bewegungsübungen gelernt und Wunder am Wegesrand entdeckt. Schauspieler, Systemtherapeuten und Motivationstrainer gestalten den Unterricht mit. Mit einfachen Übungen werden die positiven Emotionen der Schüler verstärkt: Zwei Schüler sitzen Rücken an Rücken. Der eine nennt eine schlechte Eigenschaft an sich selbst, der andere soll sie positiv umformulieren. Zum Beispiel: „Ich bin faul.“ – „Du denkst an dich.“ Oder: „Ich trainiere nicht den linken Fuß“ – „Du hast einen starken rechten.“

„Es ist unser Ziel, starke, zuversichtliche Persönlichkeiten zu formen. Dazu gehört die Fähigkeit, sich zu freuen, zu reflektieren und sich wohlzufühlen, körperlich wie seelisch“, so Schubert. Die Botschaft lautet also: Glück ist erlernbar!

Quellen: www.ichp.de, www.whs.hd.bw.schule.de

Erickson-Geschichten I

Der amerikanische Psychiater Dr. Milton Erickson gilt als der Neubegründer der Hypnotherapie, als Pionier der Familientherapie und als einer der kreativsten und einflussreichsten Therapeuten überhaupt. Viele kuriose Geschichten kursieren über ihn. Er selbst hat viele Geschichten aus seinem Leben erzählt, um anderen durch das Erzählen nützliche Dinge zu vermitteln. In dieser Serie möchte ich einige dieser Geschichten vorstellen (zitiert nach: Sidney Rosen, Die Lehrgeschichten von Milton H. Erickson. Wer möchte, kann das Buch mit allen Geschichten hier bestellen).

Erickson erzählt: „Viele Leute waren besorgt, weil ich schon vier Jahre alt war und immer noch nicht sprach. Ich hatte eine zwei Jahre jüngere Schwester, die sprach. Und sie spricht immer noch, aber gesagt hat sie eigentlich nichts. Viele Leute waren besorgt, weil ich als Vierjähriger nicht sprechen konnte. Meine Mutter sagte ganz ruhig: „Wenn die Zeit kommt, wird er sprechen.“ (Rosen, 69)