Die Binsenschmuckzikade

Mein Kollege Adrian Hürzeler bietet im Zürcher Raum Coaching und Achtsamkeitstraining an. Ich habe vor einigen Monaten ein Achtsamkeitstraining mit ihm mitgemacht und es hallt immer noch in mir nach und verfeinert meine Fähigkeiten des Wahrnehmens und Erlebens. Adrian hat mir vor einiger Zeit eine therapeutisch nützliche und, wie ich finde, wunderschöne, Geschichte vorgelesen, die er geschrieben hat. Ich habe ihn gefragt, ob ich die Geschichte mit euch teilen darf und – hier ist sie…

„Vor mehreren Jahren schlüpfte aus einem Ei eine hübsche, lindengrüne Binsenschmuckzikade. Da sich diese Zikade – die übrigens eine ausgezeichnete Meisterin im Sich-tarnen ist und eine wunderbare Sprungkraft besitzt – während ihrem Wachstum optimal auf das harte Leben vorbereiten wollte, stiess sie im Verlaufe der Zeit immer wieder ihre Haut ab. Wurde eine Haut zu eng – denn sie entwickelte sich prächtig und erlernte dabei viele, viele hilfreiche Fähigkeiten – dann entschloss sie sich diese abzustossen und sich wieder eine neue zuzulegen. Inzwischen vermutet die Wissenschaft, dass das Abstossen der Haut auch eine Reinigung von erlittenen Verletzungen und von Krankheiten und Parasiten bedeutet. Jeweils zu Beginn, im Dasein mit dieser neuen Haut, war sie unendlich verletzlich und den Gefahren des täglichen Lebens ausgesetzt. Auch die hübsche Zikade selbst wollte immer wieder aufs Neue lernen, wie sie mit dieser Situation umzugehen hatte; auch damit sie in dieser heilsamen Metamorphose, trotz dieser ganz natürlichen und beschützenden Angst, sich nicht noch selbst verletzte. Doch nach und nach härtete auch diese neue Haut wieder aus und übernahm die notwendige Schutzfunktion und sie gewann immer mehr Vertrauen in ihre wiedergewonnene Sicherheit. Ach ja – noch etwas: dieses, von den anderen oft etwas verkannte Tierchen hat eine ganz spezielle Fähigkeit – sie kann sich nicht nur mit ihren Beinen fortbewegen, sondern benutzt dazu auch immer wieder mal ihre elfenhaften Flügel. Und manchmal entschliesst sie sich nicht nur aus eigener Kraft zu fliegen, sondern sie breitet dazu einfach ihre Flügelchen aus und lässt sich vom heilsamen Wind tragen, der sie dann ein Stück durch ihr Leben begleitet.
Und wenn man sich mal etwas Gutes tun möchte, dann kann man dem Zirpen dieser Zikade achtsam zuhören und dabei in Gedanken auf eine mediterrane, sonnenerwärmte und würzig duftenden Wiese reisen.“ (Adrian Hürzeler)

Übrigens: Am 3.11.-4.11.2012 biete ich in Zusammenarbeit mit Adrian Hürzeler bei Luzern am Vierwaldstättersee ein zweitägiges Seminar zu therapeutischem Erzählen an (aber auch für Coaches, Pädagogen und andere Berufe einsetzbar) . Wer Interesse hat, kann hier einmal nachschauen oder bei Adrian oder bei mir einfach nachfragen. Wir freuen uns über euer Interesse!

Spielend I

Ein Saxophonlehrer fragte seinen Schüler: „Welche Kraft brauchst du, um eine Klappe zu schließen? Nimm diese Kraft, mehr nicht.“

(S. Hammel, Handbuch des therapeutischen Erzählens. Geschichten und Metaphern in Psychotherapie, Kind- und Familientherapie, Heilkunde, Coaching und Supervision. Klett-Cotta, Stuttgart 2009)

Der Eimer ist leer

Der Eimer ist leer! Der Eimer muss neu befüllt werden! Das ist seltsam. Ich könnte schwören, wir hätten gestern noch Wasser nachgefüllt.  Es muss an der natürlichen Verdunstung liegen, dass über Nacht so viel von dem kostbaren Nass verloren gegangen ist. Woran sonst könnte es liegen?

„Die Banken sind leer! Sie müssen dringend rekapitalisiert werden!“ So hat jetzt der scheidende EZB-Präsident Trichet in einem dramatischen Appell ausgerufen. Das mag sein, dass die Eimer und Töpfe dort Niedrigwasser führen. Es mag auch sein, dass sie befüllt werden müssen. Aber haben die Regierungen Amerikas und Europas nicht gerade vor 3 Jahren mit riesigen Bürgschaften und Krediten die Banken befüllt? Von 500 Milliarden Euro war damals die Rede, mit denen die Bundesregierung die Banken damals gestützt hat. Eine halbe Billion. Wäre es am Ende möglich, dass wir einen Eimer befüllen, der löchrig ist? Wäre es möglich, dass aus Bankeigentum unter der Hand im Laufe weniger Jahre Privateigentum wird? Wenn die Banken so schnell arm geworden sind, müsste es doch jemanden geben, der an den armen Banken reich wird? Kann es sein, dass ein Staat Banken unterstützt, ohne Prozesse zu unterbinden, die dazu führen, dass deren Kapital unter der Hand privatisiert wird oder auf andere Art gebunden wird und für die Bank keine Sicherheit mehr darstellt?

Das ist ein bisschen so, als ob ich einem überschuldeten Menschen in therapeutischer Absicht seine Rechnungen bezahlte, und übersehe, dass er das Verhalten, das zu seinem finanziellen Ruin geführt hat, weiter führt. Und, nachdem ich bemerkt habe, dass er wieder in Geldnöten ist, seine nächsten Rechnungen ebenso bezahle. Wie lange kann ich einen solchen Menschen stützen und mich weiterhin professionell nennen? Und natürlich auch: Wie lange kann ich mir das selbst leisten? Es ist auch ein bisschen so, als ob man eine Alkoholtherapie mit einem Klienten macht, während dieser zwischen den Therapiepausen weitertrinkt. Oder eine Paartherapie mit einem Paar, während ein Partner fortgesetzt fremdgeht. Oder eine Therapie mit einem Gewalttäter, der stetig weiter Gewalt verübt. Und der Therapeut therapiert weiter in dem Gedanken: Ich muss dem Menschen doch helfen. Ich kann doch nicht tatenlos zusehen…

Wenn man als Therapeut Energie in ein System investiert, dem stetig Energie entzogen wird, ohne die Quelle des Energieverlusts zu stopfen, dann  ist das unprofessionell. Ich möchte so nicht arbeiten.

Ich frage mich: Wie lange kann man ein System stabilisieren, das sich selbst unablässig destabilisiert – ohne das System so zu verändern, dass die Unterstützung nicht alle paar Jahre wiederholt werden muss? Und wer profitiert im Zeitraum bis zum nächsten Zusammenbruch von der Unterstützung?

 

Seminar: Die Kraft von Metaphern

In gut zwei Wochen, am 5.2. und 6.2. halte ich beim Milton-Erickson-Institut Heidelberg ein Seminar zu therapeutischem Geschichtenerzählen. Kurzentschlossene können noch dazukommen. Anmeldeschluss ist jetzt am Wochenende (für Anmeldungen per E-mail: Sonntag, 23.1.2011, per Telefon: Montag, 24.1., 9.30 h). Das Seminar steht unter dem Titel „Die Kraft von Metaphern im System und mit System“. Hier der Ausschreibungstext:

„Therapeutisches Erzählen ist seit jeher ein zentraler Bestandteil von Hypnotherapie, Systemik und vielen anderen Beratungsformen. Der Einsatz von Metaphern- und Beispielgeschichten ist aus dem alten Orient bekannt und ist bis heute eine der wirksamsten Beratungsformen. Die Geschichten werden vom Berater erzählt oder vom Klienten eingebracht und vom Berater reframed, oder sie werden von den Gesprächspartnern gemeinsam entwickelt. Nur, wie entdecke ich eine nützliche Geschichte und wie erzähle ich sie? Per Musenkuß? Das Seminar vermittelt die Techniken, um individuelle Geschichten in der Beratung spontan zu entwickeln und sie therapeutisch wirksam zu erzählen.

Ziel des Seminars ist es also, zu lernen, wie man…

* therapeutische Geschichten für Klientinnen und Klienten findet
* jederzeit Geschichten für einzigartige Lebenssituationen erfindet
* Erzählungen therapeutisch wirksam formuliert und einbettet
* Problemmetaphern von Klienten in Lösungsmetaphern zu transformiert, die diese unwillkürlich in ihre Wirklichkeit reintegrieren
* motivierende, warnende, Such- und Lernhaltungen aktivierende Geschichten aufbaut.“

Ich freue mich über Anmeldungen beim Milton-Erickson-Institut Heidelberg!

Aus dem Maul des Krokodils

Diese Geschichte verwende ich bei einigen Gruppenkonflikten, bei widersprüchlicher Kommunikation (Doppelbotschaften), im Zusammenhang mit Borderlinestörungen und komplizierten Ambivalenzen in Beziehungen und bei einer widersprüchlichen und teilweise destruktiven Autokommunikation der Klienten. Man kann solche Geschichten sehr unterschiedlich verwenden, je nachdem, ob man alle Protagonisten als Teile eines „inneren Teams“ im Klienten sieht (also als verschiedene Persönlichkeitsanteile), ob man sie alle als äußere Figuren sieht (Konflikt zwischen Familien- oder Teammitgliedern, Konflikt zwischen verschiedenen Teams oder Teilen einer Gesellschaft) oder ob man sie teils als innere und Teils als äußere Figuren sieht (Doppelbindungs-Kommunikation).

„Guten Morgen, liebes Zebra!“ Der kleine Vogel saß in Alis aufgesperrtem Rachen und pickte die Essensreste aus den Krokodilszähnen. Freundlich begrüßte er den alten Freund. Doch das Zebra starrte ihn aus großen Augen an, tat einen Satz zurück und nahm Reißaus. „Aber Zebra, du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben. Wir haben uns doch immer…“ Der Vogel schaute nach dem Krokodil. „Was hat er nur? Verstehst du das?“ Ali schüttelte den Kopf. „Zebras sind komisch. Keine Ahnung.“

Die Seefrau an Land

Diese Geschichte habe ich in der Therapie verwendet bei Leuten, die einen organisch nicht erklärbaren Schwindel hatten.(Anhaltenden Schwindel immer ärztlich abklären lassen!) Das Bild ist auch geeignet für die Therapie von Menschen in manchen Mobbing- oder Verlustsituationen und in anderen Therapien zum Thema Identitätsfindung (etwa im Umfeld von Beratungen zu Selbstsicherheit, Traumaerfahrungen und bei Borderline-Diagnosen).

„Ich komme gerade von einem fünftägigen Segeltörn“, erzählte die Frau. „Mein Kopf gaukelt mir vor, ich wäre noch auf dem Schiff. Alles hier schaukelt und schwankt.“ „Ich war einmal in einem Schiffsmuseum“, antwortete der Mann. „Sie hatten dort eine Halterung für Kerzen, so dass sie selbst auf hoher See stets aufrecht stehen bleiben. Die Halterung besteht aus drei ineinander gefügten Ringen, die miteinander verbunden sind, so dass jeder innerhalb des anderen frei drehbar ist. Der äußere Ring, der an einer Kette hängt, ist senkrecht befestigt, der mittlere des gleichen, jedoch in rechtem Winkel quer zu ihm. Der innere Ring darin liegt waagerecht. In ihm befindet sich der Kerzenhalter, mit seinem Schwerpunkt unterhalb des Rings. Gleich, wie das Schiff nun schwankt, bewegen  sich die Ringe so, dass ihre Kerze aufrecht bleibt.“ „Jetzt ist der Schwindel weg“, sagte die Frau.

Good Vibrations

Gerade bin ich mit den Korrekturen zum „Handbuch der therapeutischen Utilisation“ beschäftigt, das im April bei Klett-Cotta erscheint. Das Buch enthältFallbeispiele und Erklärungen dazu, wie man in der Therapie gerade die Dinge für die Ziele der Klienten nutzen kann, die auf den ersten Blick unnütz, lästig oder geradezu schädlich erscheinen. Dazu gehören natürlich die Erfahrungen, deretwegen die Leute in Therapie gekommen sind, zum anderen aber auch ganz alltägliche Störungen. Ich gebe einmal ein Beispiel.

Eine Frau wollte gerne hypnotisiert werden, weil sie sich nur schwer konzentrieren könne, Gedächtnisprobleme habe und sich meistens verwirrt fühle. Die ersten Therapiestunden ergaben, dass es genügend familiäre Probleme gab, um diese Schwierigkeiten zu erklären. Die Frau wünschte sich jedoch eine Therapie, die die ihre Familiensituation unberücksichtigt lassen sollte. Ich erklärte ihr, ich hielte zwar grundsätzlich ein anderes Vorgehen für angezeigt, ihrem ausdrücklichen Wunsch entsprechend werde ich aber mit ihr daran arbeiten, ihre mentalen Prozesse so weit als möglich zu optimieren, ohne ihre Familienbeziehungen und die sich daraus ergebenden Probleme zu bearbeiten.
Nach einigen Sätzen der Hypnoseinduktion begann, für mich unvorhergesehen, im Keller ein Handwerker mit einer Schlagbohrmaschine eine Wand zu durchbohren. Minutenlang vibrierte das Haus, und der Lärm war so gewaltig, dass ich sehr laut reden musste, um für die Klientin hörbar zu bleiben. Ich sagte:
„Manchmal geschieht es, dass etwas Unvorgesehenes unser Leben erschüttert, und wir merken erst einen Augenblick später, dass es etwas Gutes ist, was mit uns geschieht. Es ist, als ob in uns etwas zurecht gerüttelt wird, so dass in unserem Körper und Geist etwas vibriert und unsere geistigen Fähigkeiten aktiviert. In uns kommt etwas zum Schwingen und eine gute Resonanz bringt in uns alle Gedanken an den richtigen Platz, alle Erinnerungen und all unser Wissen werden dadurch aufgeräumt, werden neu geordnet und dadurch neu auffindbar.“
Einige Tage später sagte eine andere Frau, die mit dieser Klientin befreundet war, zu mir: „Meine Freundin hat gesagt, Sie hatten einen Handwerker im Haus, der mit einer Maschine gearbeitet hat, und das sei so wohltuend gewesen.“

(Aus: Stefan Hammel, Handbuch der therapeutischen Utilisation. Vom Nutzen des Unnützen in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde und Beratung. Stuttgart, Klett-Cotta 2011)

Der Grashalm in der Wüste

Gestern war ich in der Kinderpsychiatrie und habe den Kindern eine Geschichte erzählt. Wir vergessen so oft, dass Menschen, die sich selbst und anderen Mühe bereiten, nicht nur aus ihren Problemen bestehen, sondern auch aus dem, was heil ist.Und wenn wir das Gesunde, Kraftvolle, Glückspendende im Leben der Kinder oder auch von uns selber pflegen, könnte es sein, dass wir mehr erreichen, als wenn wir immer mehr Zeit auf die Behandlung des Störenden verwenden. Natürlich muss man zuweilen bei dem, was stört, anknüpfen. Wenn man allerdings bei der Behandlung der Störung hängen bleibt, ist man wahrscheinlich schon selbst ein Teil der Störung geworden. Denn wer sagt uns, dass die Reaktionen der Menschen auf das Problem nicht zu dem Problem maßgeblich beitragen? Vielleicht kommen wir schneller zum Ziel, wenn wir das Unauffällige, Gesunde, Normale in den Vordergrund unserer Betrachtung stellen. Ich habe jedenfalls den Kindern die folgende Geschichte erzählt.

Ein Mann durchquerte eine Wüste. Rings um ihn her gab es nur Sand, Steine und Felsen, den leuchtend blauen Himmel und über ihm die glühend heiße Sonne. Auf der Hälfte seines Weges geschah es, dass er Rast machen wollte und sich nach einem geeigneten Platz umsah. Weiterlesen

Recycling II

Das erinnert mich an eine Beobachtung in verschiedenen Städten in Kambodscha. Ich denke zum Beispiel an Phnom Penh.

Wir gehen durch eine Einkaufsstraße.
„Wick-wack, wick-wack.“
Eine Hupe, die wie eine Gummi-Badeente klingt, kündigt eine Müllsammlerin an, mit ihrem Handwagen durch die Straße zieht. Manche dieser Sammlerinnen sind auf Glas- und Plasikflaschen spezialisiert, manche nehmen jede Art von Müll, einige suchen Reis- und Baustoffsäcke oder Dosen.
Glasflaschen werden an Moped-Tankstellen verkauft, die am Straßenrand Benzin verkaufen, Plastikflaschen können als Wasserbehälter dienen oder verfeuert werden, Baustoffsäcke können mit Beton gefüllt als formbare Mauersteine Verwendung finden und Nahrungsmittelsäcke mit schönen Motiven können in Taschen für Touristen verwandelt werden. Aus Blechdosen kann man Spielzeug machen, das ebenfalls von Touristen gekauft wird.
Phnom Penh hat keine geregelte Müllabfuhr. Die Straßen sind weitgehend abfallfrei.