Interessenverschiebung

Nach einer langen Zeit im Koma kehrte mein Onkel Dennis mit einer geistigen Behinderung ins Leben der Menschen zurück. Vieles hatte er vergessen und vieles war ihm gleichgültig geworden. Oft deutete er mit dem Finger zum Himmel: „Schau, eine F-14 Tomcat Maschine! Sieh mal, ein Apache-Helicopter!“ Und er beschrieb die Triebwerkstypen, Leistung, Traglast, Cockpitausstattung, Besatzung und Bewaffnung der vorbei fliegenden Maschinen. „Er war im Koreakrieg“, sagte seine Frau. „Aber ich wusste nicht, dass etwas darüber weiß. Wir sind seit 30 Jahren verheiratet, und er hat sich nie dafür interessiert.“

Die Geschichte kann in der Beratung dazu dienen, um deutlich zu machen, dass die Menschen in unserer Umgebung verborgene Fähigkeiten haben, von der die Umgebung nichts weiß – manchmal über Jahrzehnte hinweg. Wir können nicht beurteilen, was ein anderer nicht kann bzw. nicht weiß, und wir haben nur bruchstückhafte Information darüber, was er kann und weiß. Dies gilt besonders bei der Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern, mit „psychisch Kranken“ und „Behinderten“.

Das verlorene Gesicht

In Japan lebte einmal ein Mann, dem ist das tatsächlich passiert: Er wachte eines Morgens auf und hatte wirklich und wahrhaftig sein Gesicht verloren! Die Sache war ihm äußerst peinlich. So wie er war, konnte er sich ja unmöglich einem anderen Menschen zeigen. Zuallererst machte er sich also ganz alleine auf die Suche. Er tastete sein Bett ab und den Boden unter dem Bett und schließlich auch den ganzen Raum, in dem er sich befand. Lange versuchte er sich so zu helfen, bis er begriff: Wer sein Gesicht verloren hat, wird es allein kaum wieder finden. Er sieht und hört ja nichts! Wie konnte dieser Mann nun Rettung finden? Es gelang ihm nur mit Hilfe seiner Freunde. Sie suchten für ihn alle Plätze ab und fanden es am Ende tatsächlich. Es war im Bad in seinem Spiegel, wo er es bei einem nächtlichen Gang verloren hatte. Wohl dem, der solche Freunde hat! (S. Hammel, Der Grashalm in der Wüste, S. 95.)

Anstelle eines verlorenen Gesichts erzähle ich dieselbe Geschichte auch mit einem verlorenen Kopf für Leute, die sich fragen: „Wo habe ich den heute meinen Kopf“, für Leute, die etwas „den Kopf gekostet“ hat (vielleicht in Wahrheit aber nur die Arbeitsstelle), die „kopflos“ sind, die vor Liebe oder Schrecken „den Kopf verloren“ haben.

Das Worfeln

In Ländern, wo ein kräftiger Wind über das Land fegt und die Felder fruchtbar macht, gibt es unter den Bauern einen Brauch, den man das Worfeln nennt. Jedes Jahr nach der Ernte, wenn sie das Korn gedroschen haben, bringen sie es nach draußen vor die Scheune. Sie werfen das Getreide gemeinsam in die Luft. Die guten, schweren Kerne fallen dann nach unten, während die leichte Spreu vom Wind davon getragen wird. Die schwerste Arbeit dabei macht der Wind. Wer weiß, ob man nicht auch Gedanken worfeln kann?

Die Geschichte aus dem Buch „Der Grashalm in der Wüste“ verwende ich, wenn jemand seine Gedanken ordnen möchte, seine Konzentration oder Gedächtnisleistung optimieren will oder wenn sich jemand mit einer gedanklichen bzw. emotionalen Aufgabe schwer tut.

Erickson-Geschichten III

Erickson erzählt: In dem Dorf Lowell, in Wisconsin, schneite es in jenem Winter zum ersten Mal am 12. November, kurz vor 4 Uhr nachmittags. Und das Kind auf dem dritten Platz in der dritten Reihe, direkt neben dem Fenster, fragte sich: „Wie lange werde ich mich hieran erinnern?“ Ich grübelte einfach… Ich wusste genau… Ich wusste, es war der 12. November im Jahre 1912. Es war sehr leichter Schnee. (Rosen, S. 68)

Schlüssel

Schlüssel und Schloss

Aus aktuellem Anlass eine Geschichte zum Wiedererlernen von Worten und Fähigkeiten nach Ausfällen des Sprachzentrums (Aphasie), zum Beispiel durch einen Schlaganfall. Die Geschichte könnte auch nützlich sein, um einen fortschreitenden Gedächtnisverlust bei Demenz zu bremsen, sowie für ein Gedächtnistraining zu Beginn der Vorbereitung für eine Prüfung.

War es ein Traum? War es Wirklichkeit? Ich schritt durch das Gebäude. Zu meiner Rechten und zu meiner Linken befanden sich viele Türen. Ich drückte die Klinken, doch kaum eine Tür öffnete sich. Die Räume, und all die Dinge in ihnen, waren mir verschlossen. Ich setzte mich hin und weinte. „Warum weinst du?“, fragte mich einer. Ich deutete auf die verschlossenen Türen. „Weißt du denn nicht…“, sagte er, und wies auf die Taschen meines Mantels. „Du hast doch die Schlüssel!“ Ich griff in die Taschen, und zog – tatsächlich – zwei große Ringe mit Schlüsseln hervor, hunderte und nochmals hunderte von verschieden geformten, großen und kleinen Schlüsseln. Woher sollte ich wissen, welcher der vielen Schlüssel zu welchem der vielen Räume passte? „Probiere alle aus!“, sagte mir mein Ermutiger. „Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Du hast alle Zeit der Welt. Probiere alle Türen, und probiere alle Schlüssel. Nach und nach öffnest du immer mehr Türen. Mach immer weiter! Gib niemals auf! Eines Tages öffnen sich vor dir, vor deinen Augen, alle Türen, bis auf die letzte!“

Der Archivar

Sucht ihr manchmal nach einem Namen, und er fällt euch nicht ein? Und dann tut ihr irgendetwas anderes und denkt gar nicht mehr daran, und plötzlich – Poff! – habt ihr den Namen! Ohne dass ihr gerade daran dachtet… Ist es nicht seltsam, dass man die Lösung beim Suchen nicht findet, nach dem Suchen aber wohl? Wie kann denn das sein? Es gibt nur eine Antwort… Weiterlesen

Afrika

Afrika hat bekanntlich die Form eines Kopfes… und im Inneren eines Kopfes befindet sich… genau! Die folgende Geschichte habe ich für die Schlaganfallpatientin entwickelt, von der ich am 9. Mai erzählt habe. Die Geschichte zielt darauf ab, Erinnerungen und Fähigkeiten zu finden oder wiederzufinden. Die Geschichte kann wohl auch in manchen Fällen von Demenz nützlich sein, und auch von Multipler Skerose. Viel naheliegender noch kann sie zur Prüfungsvorbereitung verwendet werden, und euch werden wahrscheinlich noch viele andere Einsatzmöglichkeiten einfallen…

Seit Jahrtausenden gibt es Landkarten. Doch zwischen den Karten aus früheren Jahrhunderten und denen aus heutiger Zeit gibt es große Unterschiede. Wenn zum Beispiel dreihundert Jahren ein Verlag eine Karte von Afrika druckte, dann gab es darauf große, weiße Flecken. „Terra incognita“ schrieb man darauf, „ein unbekanntes Land“. Die Küsten waren damals weitgehend Weiterlesen

Pantomime

Vor einigen Wochen hatte ich bei der Arbeit im Klinikum eine Begegnung, die mich beschäftigt.

„Guten Tag. Mein Name ist…“, so wollte ich mich einer Patientin vorstellen. „Sie ist aphasisch, sie kann nicht sprechen“, erklärte mir die Krankenschwester. „Schlaganfall…“ Die junge Frau wirkte mutlos und depressiv. Ihre ratlosen Gesten ließen mich wissen, dass sie meine Worte nicht verstand, bis auf wenige, die ihr ein Nicken oder Kopfschütteln entlockten. Wie kann man mit einem solchen Menschen kommunizieren? Ihr Sprachzentrum war getroffen. Die Sprache war zerstört – was ist aber mit Bildern? Kann sie die noch verstehen? Weiterlesen