Volkszählung

Die Verwaltungsangestellte schüttelt den Kopf: Einen Reisepass? Den holen Sie bitte in Zimmer  402.“ Sie klingt genervt. Durch lange Korridore und über mehrere Treppen komme ich dort an. Ein Schildchen an der Tür verweist mich weiter zu Nr. 407. Im Flur davor warten ein halbes Dutzend Leute, bis sie dran sind. Angespannte Langeweile liegt darüber wie Blei. Ich warte eine Stunde, anderthalb. Schließlich darf ich eintreten. In Zimmer 407 erfahre ich, dass ich noch eine Bescheinigung mitbringen muss, von der ich nichts wusste, außerdem 35 Mark Bearbeitungsgebühr. So gehe ich wieder nach Hause. Ich komme vorbei an weihnachtlich geschmückten Häusern und Schaufenstern. Irgendwo steht eine Krippe, Maria, Josef und das Kind. Weihnachtsstimmung habe ich nicht. Da schießt es mir durch den Kopf: Wie es wohl damals Maria und Josef ergangen ist, als der römische Kaiser sie nach Bethlehem geschickt hat, um sie steuerlich zu registrieren und ihre Steuerklasse zu ermitteln? War das Leben damals noch einfacher?

Ich stelle mir vor, wie der kaiserliche römische Sachbearbeiter zu Maria sagt: „Sie sind also sein vertrautes Weib…, was soll das heißen?  Verlobte Ehefrauen gibt es nicht. Sind Sie nun seine Frau oder nicht?“ Maria nickt unsicher. Sie spricht galiläischen Dialekt und versteht ihn nur schlecht mit seinem Bethlehemer Akzent. Der Beamte deutet auf ihren Bauch und wendet sich an Josef: „Sind Sie der Vater?“ „Ja, äh, ich meine, nein“, sagt Josef. „Also unehelich“, meint der Sachbearbeiter. „Und wer ist der Vater?“ Von da an wird die Sache kompliziert.

Als Maria und Josef die Behörde verlassen, ist es Abend. Weihnachtsstimmung haben sie nicht. Dabei bat sich Josef sehr darauf gefreut, nach Bethlehem zu kommen. Die Heimat seiner Vorfahren. Aber als die Leute in der Herberge seinen galiläischen Akzent hören, sagen sie: Ausländer brauchen wir nicht. Geht zurück nach Nazareth, wo ihr hingehört.“ Sie gehen weiter. Maria kommt in die Wehen. Ein Bauer gibt ihr Notunterkunft in einem Stall. „Das geht nur vorläufig“, wie er betont. „Der denkt wohl, wir wollen unsern Ruhestand hier verbringen“, sagt Josef verärgert, während er Heu sammelt, um Maria ein Bett zu machen. In dieser Nacht wird das Kind zur Welt kommen, das die Propheten angekündigt haben. Das Kind, auf das die Juden warten. Das Kind, in dem Gott Mensch wird. Gottes Kind. „In was für ein Land ist dieses Kind geboren? In was für eine Zeit?“, so denkt Josef spät in der Nacht noch nach. In eine Zeit und ein Land, wo Menschen heimatlos umherziehen. Es heißt, die Herberge sei überfüllt. Manche Fremde werden behandelt wie das Vieh, jedenfalls von einigen Leuten. Es kann Leute geben, die sagen: „Eine Futterkrippe für euer Kind, das ist noch Luxus. Das Heu ist noch zu gut für euch.“ Irgendwann schläft Josef ein. Er träumt noch einmal, wie er an der Herbergstür steht. Doch diesmal stellt sich ein weißer Engel neben den Herbergsvater und flüstert ihm etwas zu. Der Engel spricht: „Hört mal, dieses Kind ist nicht irgendein Kind, das ist Jesus. Das ist der Christus, der Retter, den ihr erwartet.“ Und das Gesicht des Herbergsvaters wird hell. Er sagt: „Ach so. Wenn das so ist, dann kommt herein. Bringt Gottes Segen mit in Fülle! Hier ist euer Bett. Meine Frau und ich können auf dem Boden schlafen.“

Doch Josef und Maria schütteln den Kopf. Sie ziehen weiter. Sie finden irgendwo… ganz gewiss… an einem Platz, wo man Fremde wie Freunde behandelt… einen anderen Stall. Sie schauen einander an: Wie weit werden sie noch wandern?

Geschwistertherapie

Eine Mutter wollte ihren Sohn in Therapie bringen, weil er bei den häufigen Streitigkeiten mit seiner Schwester diese regelmäßig blutig kratzte. Auch gegenüber der Mutter sei er ungehorsam, fühle sich regelmäßig im Unrecht, beschimpfe sie mit groben Worten und versuche sie zu schlagen. Der Junge ginge in den Kindergarten, seine Schwester in die erste Klasse. Auch im Kindergarten sei der Junge aggressiv und habe daher wenige Freunde, obwohl die Erzieherinnen und die Kinder sich lange bemüht hätten, ihn zu integrieren. Der Vater der Kinder sei meistens beruflich unterwegs, die Mutter fühle sich mit dem schwer zu kontrollierenden Jungen überfordert.

Ich bat die Mutter darum, zur ersten Stunde beide Kinder zur Therapie mitzubringen. Ich ließ die Kinder erklären, auf welche Arten und aus welchen Anlässen sie sich stritten. Zur zweiten Stunde bat ich die Mutter, nur die Tochter mitzubringen. Ich fragte das Mädchen: „Was meinst du? Wenn du es wirklich wolltest – auch wenn du sonst vielleicht gar nicht so bist – würdest du es irgendwie hinkriegen, deinen Bruder richtig auf die Palme zu kriegen?“ „Na klar!“ „Echt? Das kriegst du hin? Wie würdest du das denn schaffen?“ „Ach, zum Beispiel würde ich ihm so eine Grimasse machen… und dann würde ich so gucken… und dann würde ich ihm die Zunge rausstrecken…“ „Und das funktioniert?“ „Ja, das klappt gut! Und dann würde ich ihm die Zunge rausstrecken…“ „Toll… und was könntest du machen, angenommen du wolltest tatsächlich einmal, dass er dich blutig kratzt?“ „Das geht ganz leicht. Da kann ich solche Gesichter machen, oder ich kann ihm seine Malstifte verstecken.“ „Toll! Könntest du sonst noch irgendetwas machen, wenn du ihn wirklich einmal so weit bringen wolltest, dass er dich kratzt?“ „Ach, da gibt es ganz viele Möglichkeiten. Ich kann ihn zum Beispiel ‚Arschgesicht‘ nennen oder ihm meinen Hintern zeigen, oder kann ihm sagen, dass er dumm ist…“

Ich fragte noch eine Weile weiter, während die Mutter mit großen Augen daneben saß und ihre Tochter aus dem Nähkästchen plaudern hörte. Schließlich gab ich den Versuch auf, mir alle Methoden nennen zu lassen; es kam kein Ende in Sicht. „Müsste deine Mutter das mitkriegen, wenn du das machst, oder könntest du es auch so hinkriegen, dass sie gar nichts davon bemerkt?“ „Das mache ich ja im Kinderzimmer, da ist die nicht.“ „Und was passiert dann?“ „Dann läuft mein Bruder in die Küche und heult, und meine Mutter fragt was passiert ist.“ „Und dann sieht sie deine zerkratzten Arme, und du sagst, du hast nichts gemacht.“ „Ja“, sagte das Mädchen etwas leiser. „Ist das schön, wenn dein Bruder bestraft wird und du nicht?“ „Klar“, sagte sie. Ihre Augen leuchteten.

Ich bat die Mutter, im Fall von Streitigkeiten zwischen den Kindern zukünftig immer beide oder keinen zu bestrafen. Vielleicht sei das manchmal ungerecht gegenüber dem Mädchen, aber der Junge habe schon zu viele Strafen zu Unrecht bekommen. Im Schnitt sei so jedenfalls mehr Gerechtigkeit zu erreichen.

In der folgenden Stunde ließ ich den Jungen allein kommen. Ich erzählte ihm die Geschichte von Gregor, dem Drachen.

In der dritten Stunde ließ ich das Mädchen wieder kommen. Ich leiß sie Stofftiere aussuchen jeweils für ihren Bruder, für ihre Mutter, für ihren Vater und für sich, außerdem eines für „den Ärgerer, der sich freut, wenn es den anderen schlecht geht“. Ich ließ sie die Familienfiguren aufstellen. Den Ärgerer nahm ich selbst. Ich erzählte dem Mädchen, dass sich der Ärgerer freut, wenn die Familie nicht zusammenhält, und dass er denkt, das bestimmt kein Tier hilft, wenn er ihre Mutter angreift. Und ich ließ den Ärgerer das Tier angreifen, das ihre Mutter darstellte. Natürlich wurde der Ärgerer in die Flucht geschlagen und war ziemlich enttäuscht. Doch er berappelte sich und versuchte Vater und dann sie selbst anzugreifen. Jedesmal zog er den kürzen. Dann sagte der Ärgerer: „Ihren Bruder hat sie ja selbst oft geärgert. Den wird sie bestimmt nicht beschützen. Zu ihm hält sie bestimmt nicht, wenn ich ihn angreife.“ Doch wieder wurde er aufs Schlimmste zurückgeschlagen. Der Ärgerer redete das Tier an, das sie selbst darstellte und versuchte ihm mit vielen Listen zu erklären, dass ihr Bruder doch doof sei, und man ihn ärgern dürfe, ja, dass er ihr doch nur helfen wolle, ihn zu ärgern, und dass sie doch gemeinsam viel Spaß haben könnten. Doch auf keine dieser Listen fiel das Schwester-Tier herein. Der Ärgerer versuchte es auf alle Weisen, doch es zeigte sich, dass alle in der Familie zusammenhielten, und auch die Schwester ihren Bruder in jeder erdenklichen Weise unterstützte. Enttäuscht und gedemütigt musste der Ärgerer schließlich abziehen. Das Mädchen aber baute aus Seilen zwischen den Möbeln des Therapiezimmers ein Familiennetz, durch das kein Ärgerer jemals wieder eindringen konnte.

In der vierten Therapiestunde ließ ich nochmals die Mutter und den Sohn kommen. Ich ließ den Jungen mit zwei Seilen zwei Länder auf den Boden legen. Das Land des Ärgerns und – was wäre das Gegenteil? „Das Land des Schmusens“ meinte der Junge. Ich ließ ihn einige Tiere aussuchen, die im Land des Ärgerns lebten und andere, die im Land des Schmusens Lebten, und er legte sie in die jeweiligen, mit den Seilen markierten Zonen.

„Was machen denn die Tiere im Ärgerland alles miteinander?“, fragte ich den Jungen. „Und was machen die Tiere im Schmuseland?“ Dann wollte ich wissen: „In welchem Land sind die Tiere wohl glücklicher?“ Mich interessierte: „Meinst du, dass die Tiere aus dem Land des Ärgerns in das Land des Schmusens kommen wollen, oder wollen eher die Tiere aus dem Schmuseland ins Ärgerland hinüber?“ Es gab, wie erwartet, eine einseitige Emigrationstendenz. Ich fragte weiter: „Aber die Tiere aus dem Schmuseland werden die Tiere aus dem Ärgerland ja sicher nur hereinlassen, wenn die Tiere aus dem Ärgerland es hinkriegen, sich so zu verhalten, dass sie zu den Schmuse-Tieren passen, oder?“ Und dann: „Was machen denn diejenigen Tiere, die ins Schmuseland hereingelassen werden, in das alle Tiere aus dem Ärgerland gerne hineinwollen? Und wie kriegen sie das hin? Und was können sie noch alles tun, um hineinzudürfen? Und was machen sie alles dort, um da bleiben zu dürfen und nie wieder herausgeschmissen zu werden? Und wer darf alles jetzt schon rein ins Schmuseland, weil er schon gelernt hat, das so zu machen? Und was meinst du, wer darf als nächstes?“ Und immer mehr Tiere durften aus dem Ärgerland ins Schmuseland hinüber, weil sie es gelernt hatten, wie Schmusetiere zu leben. Schließlich stritten sich im Ärgerland nur noch ganz wenige, und bald danach war das Ärgerland leer.

Nach der vierten Sitzung rief die Mutter der beiden Kinder an, dass kein weiterer Therapiebedarf bestehe, weil sich die Probleme in der Familie wie auch im Kindergarten weitestgehend aufgelöst hätten.

Streichelpädagogik

Beim Weitergehen finde ich ein Schild mit der Aufschrift:

„Man kann in ein Kind nichts hineinprügeln, aber vieles herausstreicheln.“ (Astrid Lindgren)

So viele Türen mit so vielen Botschaften… Sehr gerne möchte ich mich unterhalten mit den Menschen, die dahinter wohnen. Nun frage ich euch: Welche Botschaft könnte an eurer Tür zu lesen sein…?

Hypnotherapie bei Brustkrebs?

Von einem Bekannten habe ich letzte Woche die folgende E-mail erhalten. Seine Frau (etwa 35 Jahre alt) war zu mir in Therapie gekommen, nachdem ein aggressives Karzinom in der Brust gefunden worden war, das bereits im Bereich der Brust gestreut hatte. Ihr Anliegen war, dass ich mit hypnotherapeutischen Mitteln die medizinische Behandlung unterstützen sollte. Sie hatten sich, dem Rat der behandelnden Ärzte folgend, für eine Brustamputation entschieden, wollten jedoch, gegen deren Meinung, keine Chemotherapie machen und nicht an der Erprobung eines neuen Medikamentes teilnehmen. Die Namen sind, wie üblich, verändert.

Hallo Stefan,

vielen herzlichen Dank für Deine Unterstützung!
Anke ist noch im Krankenhaus und kann den Termin morgen nicht wahrnehmen.
Nach der OP war sie sichtlich erleichtert. Sie sagte mir, dass Abendbrot hätte ihr so gut geschmeckt, wie die letzten 3 Wochen nicht mehr. Der Schnellbefund hat ergeben, dass die Wächtelymphknoten „heil“ sind. Das gibt uns ein ganzes Stück Beruhigung. Wir sind sicher, den richtigen Weg genommen zu haben.
Ich kann es kaum in Worte fassen. Die Prognosen sahen anders aus. Ich bin überzeugt, dass das Gebet und Deine Therapie Wunder bewirkt haben. Bei dem Endergebnis bin ich zuversichtlich, dass dies ebenfalls positiv ausfällt.
Das muss ich noch loswerden: Nachdem ich die Geschichten in Deinem Buch verschlungen habe (die mit der Brille als Krücke) hatte ich immer mehr den Anschein, dass auf meiner Brille ein weißer Schleier liegt, obwohl ich sie geputzt habe.
Seit Sonntag hatte ich diese nicht mehr auf der Nase. Ich fühle mich richtig gut damit.

Liebe Grüße

Peter

Ich möchte ein paar Gedanken zum Verfahren anschließen: In der Therapie habe ich die Frau unter anderem gebeten, sie möge…

  • ihr Immunsystem dafür loben, dass es schon lebenslang fast alle Krebszellen aussortiert und abgesondert hat
  • die Krebszellen auffassen als solche, die als Freunde des Körpers in bester Absicht etwas gewaltig übertreiben
  • allen Zellen ausrichten, sie sollen wachsen, bis sie an eine andere Zelle stoßen und dann aufhören
  • den Krebszellen erlauben, sich zurückzubilden und am Leben zu bleiben, oder
  • andernfalls dürfe der Körper sie beseitigen.
  • sich regulierende Bilder vorstellen, die ihre Körperfunktionen neu aufeinander abstimmen, zum Beispiel die Wirkung von Ventilen.

Das hypnotherapeutische Verfahren war sehr ähnlich demjenigen bei einem anderen Patienten, von dem ich (auf dessen ausdrückliche Aufforderung hin) neulich berichtet habe.

Vorgestern hat Peter angerufen und mir mitgeteilt, dass die Laborbefunde vorliegen. Der entfernte Tumor werde nicht mehr als G3 sondern als G2 bewertet. Das heißt, dass sich der Tumor in der Laborauswertung als weniger verwachsen und verzweigt darstellt als in den Voruntersuchungen. Er wird daher, grob gesprochen, als weniger aggressiv angesehen. G1 steht für leichte, G 2 für mittlere, G3 für starke und G4 für extreme Verwachsungen.

Dem Löwen ins Auge blicken

Das hier hat mir ein Afrikaner erzählt, Mr. Mniyka aus Kenia.

„Wenn du einem Löwen begegnest“, so erzählte er, „dann musst du ihm unverwandt in die Augen blicken. Ein einziger kurzer Blick zur Seite, eine Zehntel Sekunde nur, und der Löwe greift an. Er springt schneller als du dich bewegen oder reden oder auch nur denken kannst. Darum, wenn du einem Löwen begegnest, dann schau ihm unentwegt in die Augen. Schaue ihn an, schaue ihn einfach nur an, unentwegt – so lange, bis er geht!“

(Hammel, Der Grashalm in der Wüste, S. 76)

Der versetzte Baum

Die folgende Geschichte verwende ich gerne bei Kindern, die Verluste zu verarbeiten haben, wie die Trennung von einem Elternteil, ein Umzug, ein Schulwechsel oder auch die Umstellungen, die mit einem Wechsel in ein Heim, in eine Pflege- oder Adoptivfamilie einhergehen. Aber sicher ist sie auch für Erwachsene in ganz unterschiedlichen Situationen geeignet.

Ein Gärtner fand bei der Arbeit in seinem Garten inmitten eines schattigen Gebüschs einen kleinen Baum. ‚Nanu!’ rief er aus. ‚Eine Felsenbirne! Wie die wohl hierher kommt?’ Einen solch schönen und wertvollen Baum hätte er nie an diesem dunklen Ort vermutet! Vielleicht hatte ja der Wind oder ein Vogel den Samen für den Baum dahin getragen.
Der Gärtner überlegte, was er nun tun würde. Er wusste, dass es manchmal schwierig ist, eine Pflanze an einen anderen Ort zu verpflanzen. Er wusste aber auch, dass seine Felsenbirne an diesem schattigen Platz niemals zu einem starken, schönen, großen Baum gedeihen konnte.  So entschloss er sich, den Baum an einen anderen Ort umzupflanzen, wo er genügend Sonne und Wasser bekäme, um kraftvoll und schön zu wachsen. Er nahm seinen Spaten und stach die Erde in einem weiten Kreis um den Stamm des Baumes aus. An einem anderen Ort hob er ein Loch aus der Erde aus und stellte den Felsenbirnbaum mit seinem Wurzelballen dort hinein. Dann gab er noch etwas Erde und genau die richtige Menge Felsenbirnbaum-Dünger dazu und goss die Pflanze gründlich.
Als er am nächsten Tag nach seinem Baum schaute, war er traurig: Der Baum ließ alle Blätter hängen! Wahrscheinlich – so dachte der Gärtner – hatte er seine Wurzeln schon so weit ausgestreckt gehabt, und dann beim Ausgraben aus der Erde ein paar von seinen kleinen Haarwurzeln verloren. Das ist eine Verletzung für den Baum, die kostet Kraft. Aber die Wurzeln eines Baumes wachsen nach. Der Gärtner beschloss, gut für seinen Baum sorgen und einfach eine Weile zu warten. Er gab dem Baum seine Zeit und wartete, und tatsächlich – bald hatten die Blätter ihre frühere Kraft wieder gefunden. Nach wenigen Monaten war der Baum kräftig gewachsen und nach einigen Jahren war er zu einem großen, starken Baum geworden.

Wertvolle Beratung: Vergebung

Nach einer Pause, bedingt durch meinen Umzug, melde ich mich wieder zurück. Und mache da weiter, wo ich aufgehört habe., bei Wertbegriffen, die für die Beratung und Therapie wichtig sind, obwohl es auf den ersten Blick gar nicht so scheinen mag. Vergebung ist ein altes Wort, das nicht mehr oft verwendet wird. Auch in der Therapie ist der Begriff eher in Vergessenheit geraten. Ich gebracuche den Begriff auch eher selten, weil er etwas groß und pathetisch klingen mag, und manchmal ist leichter, mit den Klienten viele kleine, vielleicht gar unscheinbare, Schritte aneinander zu reihen, bis man sich unversehens gemeinsam am Ziel findet.

Oftmals, so denke ich, geht es in der Therapie darum, zu lernen, das Recht auf Zorn und Groll, das Recht auf Wiedergutmachung, das Recht auf eine Entschuldigung oder Sühne loszulassen und darauf zu verzichten, Gerechtigkeit (wie jeder selber sie versteht, wieder einzufordern. Vergebung kann auch bedeuten, nicht in der Vergangenheit, die niemand ändern kann, zu kreisen und Forderungen zu stellen, die sich nur durch eine Zeitreise in frühere Tage einlösen ließen. Oftmals geht es gar nicht um die moralische Frage, dass es „gut“ sei, anderen zu vergeben. Oftmals ist das wichtigste an der Vergebung, einen selbstzerstörerischen Prozess zu beenden; denn derjenige, dem vergeben werden soll, hat möglicherweise mit der behaupteten Schuld gar kein Problem – oder ist womöglich selbst gar nicht mehr am Leben. Mit der Vergebung hat es aus therapeutischer Sicht aber die folgende Bewandnis: Weiterlesen

Adlerküken

Das hier ist eine Geschichte, die mein Großvater mir erzählt hat, als ich ein Kind war. Ich erzähle sie zum Beispiel Kindern aus Patchwork- und Pflegefamilien und Kindern getrennterziehender Eltern.

Wo genau diese Geschichte sich ereignet hat, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, es muss in einem Dorf auf dem Balkan gewesen sein, im ehemaligen Jugoslawien. Ganz genau weiß ich noch dies: Das Adlerküken war aus seinem Nest gefallen. Es war quicklebendig. Als die Familie es fand, schlug es mit den Flügeln und sperrte den Schnabel weit auf. Verletzt war es anscheinend nicht, außer an einer Stelle, wo es ein wenig blutete. Die Eltern der Familie zögerten eine Zeitlang. Sie sahen sich um. Da war weit und breit keine Adlermutter zu sehen und kein Adlervater. Allein auf sich gestellt, wäre das Adlerjunge gestorben. Was sollten sie tun? Die Kinder baten und drängten ihre Eltern, und so nahmen sie es schließlich mit. Zuhause setzten sie es erst einmal in einen Käfig, in dem früher einmal ein Paar Nymphensittiche gewohnt hatten. Weiterlesen

Die kleine Torte

Gestern habe ich in der Klinik eine Frau getroffen, die zeigte mir nach der Begrüßung einen Butterkeks auf ihrem Nachttisch. „Das ist meine Torte. Ich habe eine Torte bestellt und habe das hier bekommen. Jetzt habe ich beschlossen: Das ist meine Torte.“ Ich war von diesen Sätzen merkwürdig berührt. Mir gefiel die Torte der Frau. Vor meinem inneren Auge sah ich eine kleine Kerze darauf brennen. Erst zuhause fiel mir ein, was mir die Frau danach an erlittenem Unrecht berichtet hatte, und ich verstand, dass sie nicht über das Gebäck, sondern über ihr Leben gesprochen hatte.