Antidepressivum

In der Klinik erzählte mir gestern eine ältere Frau, dass sie immerzu Schmerzen habe, dass sie mutterseelenallein sei und dass sie sterben wolle. Ihr Mann und ihr späterer Lebensgefährte seien verstorben. Sie habe keine Geschwister, keine Kinder und auch sonst niemanden, der sich für sie interessiere. Sie lebe in einem Altenheim und könne das Bett nicht verlassen. Sie sehe keinen Sinn in ihrem Leben mehr. Sie fragte mich, ob ich etwa noch einen Sinn darin sähe.
„Ihr Leben hat auf diese Art wirklich keinen Sinn mehr“, sagte ich. „Sie können ihm aber möglicherweise einen geben. Da draußen sind noch mehr Menschen, die so einsam und unglücklich sind wie Sie. Diese anderen Menschen haben das ebenso wenig verdient. Sie können sich Papier, Schere, Klebstoff, Blumenprospekte und Stifte geben lassen und können Geburtstagskarten basteln und verschicken für diese Leute, denen es genauso geht, wie Ihnen.“ „Wozu?“ war die Antwort. „Das bringt doch nichts. Mir hat noch nie jemand Blumen geschenkt.“ „Sie mögen Blumen gerne, ja?“ fragte ich, und wir unterhielten uns über Blumen. Wenigstens jetzt leuchteten ihre Augen.
Nach einer Weile verabschiedete ich mich. Ich ging zum Blumenladen und kam wieder mit einem Strauß von orangenroten Rosen in verschiedenen Farbtönen. „Das Kraut hier mit den roten Früchten ist Johanniskraut“, erklärte ich. „Das ist ja eigentlich ein Antidepressivum. Die Verkäuferin hat gemeint, vielleicht wirkt es auch, wenn man es anschaut. Wer kann das wissen?“ „Haben Sie mir diese Blumen gekauft?“, fragte die Frau. Ihre Augen leuchten immer mehr. „Sie haben jetzt einen Auftrag“, sage ich. „Zählen Sie die Rosen in diesem Strauß. Wenn Sie zurückkommen in Ihr Altenheim, dann schenken Sie so vielen Menschen eine Rose, wie Rosen in diesem Strauß sind.“ Die Frau wandte ein, sie wisse nicht, wer die Blumen für sie besorgen sollte. „Sie werden einen Weg finden“, sagte ich. „Sie können aber auch Folgendes tun: Wenn Sie sich an den Rosen satt gesehen haben – aber erst, wenn Sie sie lange genug gesehen haben – dann lösen Sie diesen Strauß auf und geben Sie jeder Krankenschwester, der Sie begegnen, eine Rose.“ „Das tue ich“, sagte die Frau und strahlte.

Auf nach Troja!

„Meine Ehe ist in einer tiefen Krise. Ich habe nicht das Geld, um eine Therapie zu machen. Was raten Sie mir?“ So fragte mich in diesen Tagen ein Mann am Telefon. Seine Stimme klang depressiv. Ich kannte das Paar von einer früheren Therapie. Er war Lehrer für Geschichte und andere Fächer. Seine Frau, eine gelernte Bürokauffrau, sorgte für den Haushalt und die Kinder. „Intensivieren oder reaktivieren Sie Ihre Freundschaften. Und sprechen Sie mit Ihren Eltern und Geschwistern.“ „Ich habe kaum Freunde. Die habe ich im Lauf der Jahre vernachlässigt. Und mit meiner Familie verstehe ich mich nicht.“ „Dann frischen Sie alte Bekanntschaften auf. Vielleicht Leute, die Sie jahrelang nicht gesprochen haben, vielleicht Leute in anderen Ländern oder in Ihrer früheren Heimat. Und aktivieren Sie alte Hobbies.“ „Sie werden es nicht glauben, sagte der Mann. Ich war früher Präsident des Karnevalsvereins. Aber das ist tief vergraben.“ „Dann gehen Sie auf Spurensuche. Gehen Sie graben! Heinrich Schliemann hat gegraben und Troja gefunden, und er hat dort einen Schatz gefunden, den er unter Gefahren geborgen hat. Es gibt ein Bild von seiner Frau, wie sie den Goldschmuck einer trojanischen Königin um den Hals trägt. Machen Sie sich auf die Suche.“ Wir unterhielten uns noch eine Weile. „Auf nach Troja!“, sagte der Mann, als er das Gespräch beendete.

Fortbildungstipp: Hypnose und Medizin

Vom 19.3. – 22.3.2009 findet in Bad Kissingen der Jahreskongress der Milton Erickson Gesellschaft für Klinische Hypnose statt. Er steht unter dem Thema: „Hypnose und Medizin – Therapeutische Kommunikation“. Die Kongressorganisation schreibt dazu: „Viele renommierte Ärzte – darunter auch mehrere Medizinprofessoren – werden darüber berichten, wie sie Hypnose in der Schmerztherapie, zur Stärkung der körpereigenenen Abwehr, zur Operationsvor- und nachbereitung, zu Zwecken einer sanften Geburt, zur Linderung von Allergien, zur Senkung des  Blutdrucks, bei Magen- und Darmspiegelungen, bei Epilepsie, etc. einsetzen… Vor  allem steht auch eine effiziente Arzt-Patient-Kommunikation in vielen medizinischen Situationen im Mittelpunkt der Betrachtung dieser Tagung“.

Nähere Informationen gibt es auf der Kongress-Website. Die Anmeldung erfolgt über: Congress Organisation, Claudia Winkhard, Holtzendorffstr. 3, 14057 Berlin, 030-36284040, cwcongress @ aol.com.

Ich werde hingehen und freue mich, wenn ich möglichst viele von euch dort wieder sehe…

Patchwork

Annetta Hammel mit Crazy Quilt in Violett und Grün
Diese Woche hatte ich eine russische Klientin in Therapie. Sie war aus Sibirien hierhergezogen, hatte ihr Kind aus erster Ehe mitgebracht und einen Deutschen geheiratet, der bereits zwei Kinder, ebenfalls aus erster Ehe, hatte. Gemeinsam hatten sie ein weiteres Kind, und inzwischen war eines der Kinder ihres Mannes wieder bei seiner Mutter eingezogen. Die Frau hatte in Deutschland trotz jahrelanger Bemühungen keinen rechten Anschluss gefunden. Sie hatte keine Freunde und keinen Ort, der ihr Heimat bot. So hatte sie sich immer mehr zurückgezogen, war verzagt und depressiv geworden. „Wenn mein Mann nicht wäre, würde ich zurück nach Russland gehen. Aber er ist ein sehr guter Mensch. Er liebt mich, und ich verlasse ihn nicht.“ Wir besprachen ihre Situation und überlegten Möglichkeiten der Veränderung. Beim Verabschieden blieb sie an meinen Wandbehängen stehen. „Das sind Quiltdecken“, erklärte ich. „Meine Mutter ist Amerikanerin. Das ist eine amerikanische Tradition. Man sagt auch Patchwork dazu. Wissen Sie, was eine Patchworkfamilie ist?“ Die Frau schwieg und lächelte. „Das hier ist Patchwork. So schön können Flicken sein. Das ist Patchwork. So ist das Leben.“

Tinnitus-Hypnose per MP3?

Am 31.12.2008, eine Stunde vor der großen Knallerei, hat eine Frau namens Inga zwei kurze Kommentare zu der Beschreibung unseres Heidelberger Tinnitusexperiments zu Hypnose geschrieben. Ich hatte eine 23minütige Standardversion unserer Tinnitustherapie als MP3 ins Netz gestellt. Das war ein wenig gewagt gewesen, denn mit unseren Probanden hatten wir jeweils anderthalb Stunden und hochgradig individuell gearbeitet. Trotzdem stellte ich die Frage, ob durch diese standardisierte Kurzfassung therapeutische Effekte erzielt werden können.

Inga schrieb: „einmal angehört, schon gebessert, werde weiter berichten… das bringt’s irgendwie, würde gern kontakt aufnehmen“. Auf meine Antwort hin erhielt ich die folgende Antwort, die ich mit Erlaubnis der Verfasserin gerne zitieren möchte:

Ich glaube, dass die Hypnotherapie eine wunderbare Sache ist, gerade bei Tinnitus, denn der ist ja ganz eng mit unserer Seele verbunden, nicht? Sehr gut bei Ihrer Datei fand ich, dass man sich fragt: Wieviel Stille ist jetzt da – nicht: Wieviel T. ist jetzt da. Das war für mich verblüffend und sehr einleuchtend. Hat weitergeholfen, hat gutgetan. Mal morgens nicht in die Küche zu gehen mit dem Gedanken: Na, wie ist der T. jetzt … sondern auf diese 90 % Stille zu gucken (bzw. zu hören). Das Bild mit dem Adler hat bei mir sofort eine sehr tiefe Entspannung ausgelöst, das hätte auch noch etwas länger gehen können. Der gute Wachhund – auch schön, dass man nicht immer denkt, T. ist etwas Schlechtes, sondern prinzipiell etwas Gutes, das sich dann aber auch wieder beruhigen darf. Auch das Musik-Bild ist natürlich sehr hilfreich. Wir hören die Musik, nicht den Fehler. Und der Fahrstuhl – ich habe mir da eher einen Heißluftballon oder eine Seilbahn vorgestellt, denn Fahrstühle erinnern mich an Hochhäuser, die ich eigentlich nicht so mag. Aber die Dachterrasse war wieder sehr angenehm. Und die vollkommene innere Freiheit, das ist es, was wir alle brauchen, oder?

Die Verfasserin schrieb weiter: „Sehr, sehr dankbar wäre ich auch für jede Erfolgsgeschichte, die Sie berichten können. Man braucht einfach Hoffnung. Das Internet ist voller Schrecklichkeiten und Foren voller Jammer und Not, unerträglich… Man holt sich täglich seine Portion Hoffnungslosigkeit ab.“

Vielleicht gibt es ja auch hier Leute, die positive Erfahrungen im Umgang mit den Ohrgeräuschen gemacht haben und ihre „Erfolgsgeschichten“ erzählen möchten?

Qué es hipnosis?

Mein Schweizer Kollege Hans Egli hat eine spanische Übersetzung der MP3 unter dem Titel „Was ist Hypnose?“ angefertigt, wofür ich ihm sehr herzlich danke! Hans Egli lebt und arbeitet seit vielen Jahren als Psychologe in Mexiko und verwendet die MP3 zu Demonstrationszwecken für Menschen, die an Hypnose und Hypnotherapie interessiert sind. Er verwendet sie gerne auch für Leute, die skeptisch sind, ob sie „hypnotisierbar“ seien oder die, verunsichert durch die Showhypnose, Aufklärung über den therapeutischen Hypnoseansatz wünschen. Die deutsche Fassung der MP3 findet sich bei den Downloads auf dieser Seite unter dem Titel „Was ist Hypnose?“.

El siguiente audio en mp3 dura aproximadamente 17 minutos y usted puede bajarlo sin costo a su computadora. Para escucharlo póngase cómodo y procure que nada le interrumpa, ni el teléfono ni nadie. Al escuchar el audio ponga atención al efecto que ejerce sobre su cuerpo y su mente. En esa breve presentación hipnótica se trata de llamar su atención a los fenómenos naturales del trance. Lo único que se le sugiere en esa demostración de hipnosis es que sea feliz.

Le deseo que disfrute la experiencia!

Autor: Stefan Hammel 

Traducción y adaptación al español: Hans Egli 

Konrad, die Raupe

Hier noch eine therapeutische Geschichte von einer meiner Ausbildungsteilnehmerinnen. Die Geschichte ist unter anderem einsetzbar bei Patienten, die somnolent bzw. im Wachkoma sind, bei Patienten im Rahmen einer Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma oder anderen Schädigungen des Gehirns, aber auch bei ADS-Kindern, bei Kindern mit einem Asperger-Syndrom oder solchen, die aus einem anderen Grund in einer Traumwelt leben…

Habe ich Dir schon mal von Konrad erzählt? Ich kenne Konrad schon lange und mag ihn sehr.
Er ist glücklich und zufrieden. Meistens ist er auch fröhlich und nur manchmal ein klein wenig traurig.
Ja, den Konrad kenne ich schon sehr lange. Früher war er, glaube ich, so etwas wie eine Raupe. Vielleicht war er auch etwas anderes. Aber er hat ziemlich nach Raupe ausgesehen, finde ich.
Damals war er schon ein richtiger Schlingel und hat sein Raupenleben genossen. Ist an den Stielen hochgeklettert, hat sich den Bauch mit Blättern vollgeschlagen und hat dann in der Sonne gedöst.
Mit dem Kopf war Konrad immer wo anders und hat auch nie richtig zugehört. Seine Eltern und die Lehrer in der Raupenschule versuchten vieles , damit sie ihn  erreichen , um ihm Dinge zu erklären. Aber er lebte in seiner eigen Welt.
Selbst Frau Marienkäfer und Herr Maikäfer, zwei berühmte Doktoren hatten keine Chance bei Konrad.
Es war ja nicht so, dass Konrad nicht wollte, doch in seiner Welt und in seinem Kopf gab es so viele Dinge und Gedanken, dass er einfach keine Zeit hatte.

Daher kam es, dass Konrad eines Tages in einem Kokon aufwachte und sehr verwundert war. Seine Eltern und Lehrer hatten zwar davon gesprochen , wollten ihn darauf vorbereiten und sie hatten ihm auch gesagt, was man in einem Kokon machem muss, aber Konrad war wieder mal zu beschäftigt gewesen und hatte nichts mitbekommen.

Konrad saß nun in diesem Kokon und wusste gar nicht genau was passiert war. Irgendwie fühlte er sich anders, konnte seine Arme und Beine nicht mehr so bewegen wie frühe und das sprechen fiel ihm schwer. Alles erschien ihm eng und dunkel.
Zunächst glaubte Konrad er hat einen schlechten Traum und wache bald auf. Dann dachte er, er sei beim Versteckspielen vergessen worden oder er habe sich verlaufen.
Konrad hatte eine Idee und wollte ganz laut um Hilfe rufen, aber niemand verstand ihn.
Da bekam er große Angst und weinte. Nach einer gewissen Zeit wurde er sehr zornig und dann war er wieder enttäuscht.
Niemand holte ihnaus dem Kokon heraus. Konrad versuchte zwar sich durch die Wände zu knabbern, aber er kam nicht weit und gab bald auf.

So kam es , dass er lange lange Zeit in diesem Kokon saß. Er hörte den Regen auf den Kokon tropfen ( mit Finger Regentropfen imitieren), wurde vom Sturm durchgeschüttelt ( schütteln zeigen)und hörte den Wind pfeifen ( Wind imitieren). Im Winter konnte es kalt werden und im Sommer heiß.
Eines Tages stellte Konrad fest, dass er ja noch immer Konrad war und er genau wie früher in seinem Kopf seine eigene welt entstehen lassen könnte. Konrad erinnerte sich plötzlich, dass es nicht so wichtig war, wo er war, sondern wer er war.

So begann Konrad sich vorzustellen, wie es ist, wenn man Arme und Beine bewegt, wie es sich anfühlt, wenn die Muskeln die Gelenke beugen und strecken. Oder versuchte seiner Stimme einen neuen Klang zu geben, neue nützliche Dingen auszuprobieren.

Konrad war so damit beschäftigt, sich Dinge auszumalen, sie dann zu probieren oder seinem Körper zu sagen, was er tun müsse, dass der  gar nicht merkte,  wie der Kokon Risse bekam.

Eines Tages platze der Kokon auf und Konrad kam heraus.
Natürlich war er nicht mehr die Raupe Konrad, denn es ist eine Tatsache, dass man aus einem Kokon anders herauskommt als man hinein gekommen ist.

Wie gesagt, ich kenne Konrad schon lange. Er ist glücklich und zufrieden.

(Alexandra Spitzbarth, Ärztin in Würzburg)

Der Lüstling

Vor einiger Zeit war ich bei einer Kollegin zu Besuch. „Ich hab jetzt eine Therapiestunde mit so einem komischen Typen“, sagte sie. „Ich weiß gar nicht, was sein Auftrag an mich ist. Er hat kein richtiges Anliegen und redet immer nur von Frauen. Bleib doch einfach mal bei der Therapiestunde dabei.“ Sie stellte mich dem Mann als einen interessierten Kollegen vor und erbat seine Erlaubnis, dass ich bei der Therapie dabei sein dürfe. Ich saß etwas abseits zwischen den beiden und hörte zu. Der Mann setzte sich seiner Therapeutin gegenüber. Er sah sie sich an, öffnete die Beine betont breit und legte die Hände auf seine Oberschenkel. Die Geste wirkte auf mich machistisch, herablassend und vulgär.

Nach einer Weile des Zuschauens wandte ich mich dem Mann zu, öffnete meine Beine ebenso breit mit Zielrichtung auf ihn,  legte meine Hände auf die Oberschenkel, blickte zwischen seine Beine und stellte mir vor, wie wohl jemand schaut, der ein Begehren für diesen Mann entwickelt.

Nach kurzer Zeit verschränkte der Mann seine Beine, und dabei blieb es für den Rest der Stunde. Wenn die Therapeutin den Effekt in kommenden Stunden wiederholen wollte, bräuchte sie nur auf die Stelle zu deuten, wo ich gesessen hatte und sagen: „Herr Hammel würde Ihnen da jetzt voll und ganz zustimmen. Herr Hammel schätzt Menschen wie Sie und ist der Meinung…“

Das Lied der Wüste

Gestern schrieb mir eine Teilnehmerin der Otterberger Hypnotherapie-Ausbildung die folgende Geschichte, die sie für einen (oder mehrere?) ihrer Patienten geschrieben hat:

„Als ich die Beduinen auf  ihrer Reise durch die Wüste begleitete lagerten wir manchmal mitten in der Wüste und manchmal in Oasen. Aber immer wurden an den Feuern alte Lieder gesungen und Geschichten erzählt. Als ich einmal über die Beschwernisse der Wüste klagte, lachte unserer Führer und erzählte uns die alte Geschichte vom Lied der Wüste…

Während eines Sandsturmes hatte sich ein Kamel in einer Oase losgerissen und war kopflos in die Wüste gerannt. Als der Sturm sich gelegt hatte, merkte es, dass es sich verirrt hatte.
Von einer  Oase oder Menschen war nichts mehr zu sehen. Die Hufspuren hatte der Wind verweht.
Tapfer machte sich das Kamel auf, um an sicheren Platz zu kommen. So lief es Tag ein, Tag aus und ruhte in der Nacht.
Doch mit jedem Tag erschien es ihm, als ob die Sonne heißer vom Himmel brenne, die Hufe bei jedem Schritt tiefer in den Sand einsinken und die Nächte immer kälter werden.
Jeden Morgen dachte das Kamel, heute ist der Tag an dem ich meinen Platz finde, und jeden abend schloss das Kamel immer enttäuschter die Augen.
Und dann kam dieser eine Tag…

Das Kamel war nur noch wenig gelaufen, seine Höcker hingen zu beiden Seiten leer und schlaff herab, und es war müde, so müde.
Daher legte es sich früh nieder, schloss die Augen und dachte: Ach Wüste,ich kann nicht mehr, ich gebe auf, Du hast gewonnen, Du bist stärker als ich, niemals werde ich dich überwinden.

Vielleicht war das Kamel eingeschlafen und träumte, vielleicht war es aber auch wach. Aber ihm war als ob es eine feine Melodie hören würde. Erstaunt öffnete es die Augen, sah sich um und sah zunächst nichts. Doch als es genauer hinsah traute es seinen Augen nicht:
Zum ersten Mal nahm es die Schönheit der Wüste war, die unendliche Weite und Offenheit in wellenförmigen Dünen bis zum Horizont. Der noch warme Sand erschien ihm jetzt so weich und angenehm wie eine Decke. Der Wind strich sanft über sein Fell und verhieß Freiheit. Es blickte zum  Himmel und sah ein schützendes Zelt aus dunklem Samt bestickt mit abertausenden von Diamanten. Und das Licht der Sterne und des Mondes tauchten die Wüste in ein blau schimmerndes Licht. 
Während das Kamel immer mehr die Schönheit der Wüste wahrnahm und andächtig in den Anblick versank, hörte es immer deutlicher die Melodie, bis aus dieser ein Lied wurde und das Kamel die Worte verstand:

Schon ewig bin ich da und werde ewig sein. Ewig und ewig.
Doch bin ich dein Freund und nicht dein Feind. Ewig und ewig
Immer schon half ich Reisenden auf ihrem Weg. Ewig und ewig
Sie hörten mein Lied und fanden ihren Weg und ihre Stärke. Ewig und ewig
Deine Vorfahren lehrte ich, was sie tun müssen, um mit mir zu reisen. Sie gaben dieses Wissen weiter von Generation zu Generation. Ewig und ewig

Auch Du hast all diese Fähigkeiten bekommen. Deine Hufe sind so ausgerichtet, dass du nicht im Sand einsinkst. Du kannst  wochenlang ohne Nahrung und Wasser auskommen, und deine Nüstern vor dem heißen Wind verschließen.
Kraftvoll und stark bist Du ewig und ewig

Komm und reise mit mir. Ewig und ewig

Am nächsten Morgen erwachte das Kamel und hatte immer noch das Lied im Herzen.
Immer noch war die Wüste schön, Da schritt es aus im Takt der Melodie und lies sich vertrauensvoll von dem Lied der Wüste führen.
Da wurde dem Kamel bewusst, dass es seinen Weg gefunden hat, der es  zu seinem Platz führt.

Der alte Beduine schaute mich an und lächelte: „Wenn Du das Lied der Wüste hören kannst, ist die Reise nicht mehr beschwerlich, sondern sie erfüllt dich mit wundervollen Gaben. Reise mit der Wüste.“

(Alexandra Spitzbarth, Ärztin, Würzburg)