Webtipp: Das Reich der Möglichkeiten

Ich könnte mir vorstellen, dass diejenigen, die den Film „Validation“ gemocht haben, auch das Video vom „Reich der Möglichkeiten“ schätzen werden. Das ist nun ein ganz anderer Film. Es handelt sich um eine Demonstration des Bostoner Philharmonie-Dirigenten und Cellisten Benjamin Zander, der seine lebensfreundliche Weltanschauung erklärt und sie demonstriert, indem er einen jungen Cellisten unterrichtet. Eine Hommage nicht nur an die Musik, sondern an das Leben und an die Liebe zu den Menschen und zu sich selbst…

Zu finden ist das Video im Blog des systemagazin, das mein geschätzter systemischer Kollege Tom Levold herausgibt.

Ich wünsche euch viel Spaß beim Anschauen!

Der Platz neben dir

Diese Woche habe ich eine neue Therapiemethode ausgedacht, die außerordentlich gut funktioniert hat. Nacheinander habe ich sie bei drei Klienten mit jeweils unterschiedlichen Problemen ausprobiert. Es war jedesmal erstaunlich….

Also, da war eine Klientin, nennen wir sie Frau Goldschmitt, die erzählte mir, wie schlecht und unfähig sie sich fühle und dass sie kein Selbstbewusstsein habe, und dass sie sich selbst dafür noch Vorwürfe mache. „Ich habe Sie aber auch anders kennen gelernt“, sagte ich zu ihr. „Ich habe den Eindruck, Sie haben einen faszinierenden Beruf erlernt und Sie füllen ihr kompetent aus. Sie haben eine Tochter, die Sie offenbar gut erzogen haben und die sehr liebevoll ist, und Sie scheinen Freunde zu haben, die viel von Ihnen halten. Da scheint es zwei Frau Goldschmitts zu geben: Eine die hier sitzt und nicht viel von sich hält, und die sich selber schlecht macht, und eine andere, die stelle ich mir neben Ihnen auf dem Sofa vor: Diese Frau Goldschmitt hat viel erreicht und wird sehr geschätzt, und sie weiß das auch.“ Und wir sprachen eine Weile über die eine und über die andere Frau Goldschmitt. Ich fragte, welche Körperhaltung die andere Frau Goldschmitt wohl habe, was ihr wichtig sei, und wie sie mit sich und mit anderen umgehe. Wir verglichen ihr Erleben und Verhalten mit dem der unsicheren Frau Goldschmitt, die da vor mir saß. Als sie mir genügend über beide erzählt hatte, sagte ich: „Dürfte ich Sie bitten, sich auf den Platz neben Ihnen zu setzen, auf den Platz der anderen Frau Goldschmitt?“ Meine Gesprächspartnerin war etwas verdutzt, aber sie tat es.

„Auf diesem Platz sind Sie ja die Frau Goldschmitt, die ihren Erfolg, ihre Freunde und den Wert ihres Lebens kennt“, fuhr ich fort. „Erzählen Sie mir noch etwas über Sie und die andere Frau Goldschmitt auf dem Platz neben Ihnen, die so unsicher ist.“ Es war verblüffend. Es schien, als ob ich mit einem anderen Menschen spräche. Vor mir saß eine starke Frau. „Bemerken Sie, wie sich Ihre Körperhaltung jetzt unterscheidet von derjenigen der unsicheren Frau Goldschmitt?“, fragte ich sie. „Merken Sie, dass Ihre Stimme ganz anders klingt? Haben Sie schon bemerkt, dass Sie jetzt ganz andere Worte gebrauchen?“ Und ich beendete die Stunde mit der starken Frau Goldschmitt.

„Wann immer Sie in Ihrem Alltag der unsicheren Frau Goldschmitt begegnen, schlage ich Ihnen vor, Plätze zu tauschen“, sagte ich zu ihr. „Sie machen das, indem Sie sich die Starke einen Schritt neben sich vorstellen, einen Schritt zur Seite treten und die Unsichere an dem vorherigen Platz lassen.“

Schaufensterkino

Die folgende Geschichte erzähle ich manchmal Jugendlichen, die zwar klug sind, aber sehr auf sich fixiert und darum nicht so sehr sozial orientiert. Nächste Woche möchte ich sie einmal bei einem sechzehnjährigen autistischen Jungen ausprobieren. Mal sehen, was passiert…

Es regnete. Keine Schule heute. Wie jeden Samstagvormittag stand sie hinter der Glastheke, in der die Brötchen, Kuchen und anderen Backwaren zum Verkauf auslagen. Durch das Schaufenster sah sie, wie der Wind die Blätter von den Bäumen fegte und in der Straße verwirbelte. Vor dem Laden kämpfte eine Frau mit ihrem Regenschirm. In dicken Buchstaben stand darüber die Inschrift: ,,Bäckerei Müller“. In Spiegelschrift natürlich, für jemanden, der drinnen stand. Wenn sie alleine war und keine Kunden zu bedienen hatte, stellte sie sich gerne vor, dieses Schaufenster sei eine Kinoleinwand und das, was sie dahinter sah, sei nur ein Film. In ihrer Fantasie veränderte sie dann die Szene. Aus den Autos wurden Kutschen, aus den Blättern Vögel und aus der Frau mit dem Regenschirm zum Beispiel ihre Mutter, wie sie mit einem wilden Drachen kämpfte. Dieses Bild amüsierte sie jetzt ganz besonders. Ihre Mutter, die alles falsch verstand, die ihr das Wort im Mund herumdrehte, die aus Gutem Böses machen konnte und aus böse gut, sie würde wahrscheinlich auch den Kampf gegen einen Drachen bestehen oder mindestens ein ,,Unentschieden“ erreichen. Bis zum nächsten Kampf.
Die Frau mit dem Regenschirm war längst verschwunden. Nun stellte sie sich vor, was sie denn gerne auf diese Schaufensterscheibe schreiben würde, anstatt des langweiligen Schriftzugs: „Bäckerei Müller“. Wie wäre es mit „Du bist mir wichtig“, „Ich mag dich trotzdem“, oder: „Ich ärgere mich, weil ich dich liebe“? Vielleicht auch: „Ich ärgere dich…“. Sie grinste ein wenig bei dem Gedanken. Sie malte sich aus, wie diese Inschriften auf der großen Scheibe wirken würden. Alle, die an der Bäckerei vorübergingen, könnten sie lesen, auch ihre Mutter. Sie sah vor ihrem inneren Auge die Inschrift: „Du bist mir wichtig.“ Ob ihre Mutter sie dann endlich verstehen würde? Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter vor dem Schaufenster stand, die Stirn runzelte und den Kopf schüttelte. Da kam ihr der Gedanke: „Du musst deine Worte in Spiegelschrift anbringen.“

Schießübung

Als ich ein Kind war, hat mir mein Großvater die folgende Geschichte erzählt:

„Zur Vorbereitung auf den Krieg machten wir Schießübungen. Einige Kameraden schossen so oft wie möglich ins Schwarze. Sie kamen an die Front. Die meisten von ihnen starben. Andere Kameraden schossen absichtlich daneben. Sie überlebten den Krieg.“

Ich erzähle die Geschichte manchmal Leuten, die sich durch ihr berufliches Engagement möglicherweise selber schaden. Man kann sie auch Menschen erzählen, die sich ritzen, und ebenso Leuten, die auf andere Art sich oder andere verletzen – körperlich oder seelisch. Dann enthält die Geschichte die Aufforderung an das Unbewusste, die längst bestehende Ambivalenz zwischen Verletzen und Nicht-Verletzen so zu regeln, dass man – wenn überhaupt – nur dem Anschein nach verletzt, ohne die Absicht zu verfolgen, zu treffen. In einigen Mobbingsituationen ergibt die Geschichte ebenfalls viel Sinn.

Der Tanz der Dornen und der Messer

Eine Kollegin hat mir eine Anregung gegeben zu einer Geschichte für Menschen, die sich ritzen oder auf ähnliche Weisen selbst verletzen. Ich erzähle die Geschichte folgendermaßen.

Es gibt bei den Indianern die faszinierendsten Bräuche. Zum Beispiel: Bevor ein Mensch erwachsen wird, ist es nötig, bestimmte Rituale zu vollziehen. Die Ethnologen, die diese Völker erforschen, sprechen von Initiationsriten. Das sind nicht einfach bloß Mutproben, sondern es sind Bräuche, die die Tür öffnen in eine neue Stufe des Lebens. Im Leben der Menschen sind diese Bräuche wie eine Stufe, die sie überschreiten, um sich auf einer anderen, höheren Ebene wiederzufinden. Diese Riten sind eine eindrucksvolle Sache! Bei einem Stamm ist es so, dass die jungen Leute eine ganze Nacht lang tanzen. Dabei schlagen sich selbst mit langen, dornigen Ranken auf den Rücken. Sie ziehen fest an den Ranken, bis ihnen die ganze Haut in Fetzen von ihrem Rücken hängt und sie gemeinsam in ihrem Blut tanzen.

Nach diesem Tanz kommt ein zweiter Tanz, bei dem sie sich mit scharfen Messern Wunden in die Arme und Beine schneiden. Dann reiben sie sich gegenseitig ein: Erst mit dem Blut, das aus ihren Adern rinnt, danach mit Speichel, den sie einander auf die Wunden reiben, und zuletzt mit Salz.

Dann tanzen sie weiter, wilder noch als zuvor. Zuletzt sinken sie einander erschöpft in die Arme und schlafen, und schlafen, und schlafen. Im Traum sehen sie Bilder, die ihnen den Weg weisen in das Erwachsenenleben, das sich unterscheidet von dem Leben, das sie vorher geführt haben.

Sie gehen aus diesem Ritual gestärkt hervor. Noch mehrere Male werden sie besondere Initiationsriten zu bestehen haben, die sie in neue Lebensstufen führen. Aber das Ritual der Dornen und der Messer machen sie nur einmal. Eingeführt in die Welt der Erwachsenen, lassen sie von da an die vorige Zeit hinter sich. Sie gehören nun zu einem neuen Alter, das neuen Regeln folgt.

Begründeter Therapieabbruch

Letzte Woche hatte ich ein erstaunliches Gespräch. „Ich habe die Therapie bei Ihnen vor einem halben Jahr bei Ihnen abgebrochen, weil ich mich über Sie geärgert habe“, sagte zu mir eine Frau am Telefon. Aber letztlich ist dabei etwas herausgekommen, was mir geholfen hat. Nun hat diese positive Wirkung nachgelassen, und ich möchte fragen, ob ich noch einmal kommen kann, um den Effekt bei Ihnen aufzufrischen.“ „Das können Sie“, antwortete ich. „Was wäre denn dann das Ziel der Therapie?“ „Sie hatten mich damals bedroht, indem Sie mir erzählten, dass man von dem vielen Erbrechen Speiseröhrenkrebs bekommen kann“. Ich erinnerte mich: Ich hatte der Klientin von den trachiotomierten Patienten erzählt, wie ihre medizinische Behandlung abläuft, wie sie reagieren und wie man mit ihnen kommunizieren kann. Ich hatte ihr auch erzählt, was der unterschied zwischen einer Kanüle zum Atmen frisch nach der OP und einer Sprechkanüle ist, wie es gluckert, wenn die Patienten husten oder zu reden versuchen, wie der Schleim und das Blut aus den Röhrchen kommt und wie man die Flüssigkeit absaugt. Die Patientin fuhr fort: „Nach der letzten Therapiestunde konnte ich mich nicht mehr übergeben, und nachdem das nicht mehr ging, waren mir die Eßattacken auch nicht mehr möglich. Nach einer Weile merkte ich, dass das meinem Selbstbewusstsein gut tut, und es fing an, mir so zu gefallen. Mein Vater hatte Krebs. Inzwischen ist er verstorben. Ich habe jetzt nach einem halben Jahr wieder etwas mit der Bulimie angefangen. Ich habe keine Angst mehr vor dem Krebs, aber ich möchte den Effekt auffrischen, damit ich wieder frei werde.“

Antike Sprichworte VII

Iß nicht bei einem Neidischen und wünsche dir von seinen feinen Speisen nichts; denn in seinem Herzen ist er berechnend; er spricht zu dir: Iß und trink!, und sein Herz ist doch nicht mit dir. Die Bissen, die du gegessen hast, musst du aussspeien, und deine freundlichen Worte sind verloren. (Spr. 23,6-8)

Erickson-Geschichten IV

Erickson erzählt: Als meine Tochter Kristi Medizin studierte, las sie einen Aufsatz von Ernest Rossi und mir über Doppelbindung. Sie kam zu uns und sagte: „Also, so mache ich es!“ Rossi fragte: „Was machst du so?“ Sie sagte: „Jeder Patient hat das Recht, Bruchuntersuchungen und vaginale oder rektale Untersuchungen durch einen Medizinstudenten zu verweigern. Keine von den anderen Studentinnen hat solche Untersuchungen gemacht, aber ich habe bei jedem meiner Patienten eine Bruchuntersuchung sowie eine vaginale oder rektale Untersuchung durchgeführt.“ Ich fragte sie, wie sie das mache, da doch alle Patienten das Recht hätten, diese Untersuchungen zu verweigern. Sie sagte: „Wenn ich zu diesem Teil der Untersuchung kamm, lächelte ich freundlich und sagte sehr mitfühlend: ‚Ich weiß, Sie haben es satt, dass ich Ihnen in die Augen sehe und in die Ohren und in die Nase und in den Hals, Sie hier betaste und dort abklopfe. Sobald ich jetzt die rektale Untersuchung und die Bruchuntersuchung durchgeführt habe, können Sie mir Auf Wiedersehen sagen.‘ “ Und alle warteten geduldig, bis sie ihr Auf Wiedersehen sagen konnten. (Rosen, 107f.)

Der Mann, der gewinnt, wenn er verliert

Vor einiger Zeit war ein Mann hier in Beratung, der sagte: „Ich möchte nicht, dass Sie enttäuscht sind, wenn Sie bei mir nichts erreichen.“ Ich antwortete ihm: „Ich werde nicht versuchen, Sie davon zu überzeugen, dass Sie mit mir etwas erreichen. Wenn ich versuche, Ihnen zu beweisen, dass Sie etwas erreichen können, und Sie wollen mir das Gegenteil bewiesen, wird es Ihnen immer gelingen und mir nie. Wenn Sie mir beweisen wollen, dass Sie hier nichts erreichen, werde ich gut daran tun, nicht für Sie das Gegenteil erreichen zu wollen.“

Er sagte: „Ich war vor Ihnen schon bei anderen Beratern. Meine Erfahrung sagt mir, dass die Wirkung etwa drei Tage anhält, danach ist alles wie vorher.“ Ich antwortete ihm: „Wenn die Stimme Ihrer Erfahrung Ihnen das sagt, dann sagt Ihnen Ihre Erfahrung ja, dass es immer nur drei Tage angehalten hat, wenn Ihre Erfahrung sagte, dass es nur drei Tage anhalten würde. Die Stimme Ihrer Erfahrung sagt Ihnen also, dass Ihre Erfahrung Ihnen schlechte Erfahrung schafft. Aus dieser Erfahrung heraus kann Ihre Erfahrung ja einmal in Urlaub gehen und andere Stimmen sprechen lassen, während sie einmal nichts sagt und nur beobachtet, was die anderen Stimmen erreichen, wo sie bisher nichts erreicht hat. Da Ihre Erfahrung Ihnen bestimmt nutzen will, wird sie das sicherlich für Sie tun.“

Er sagte: „Ich traue mir nichts zu. Ich habe kein Selbstbewusstsein. Ich habe das Gefühl, ich habe alles falsch gemacht. Ich bin viel zu perfektionistisch. Ich grüble zu viel.“ Ich antwortete ihm: „Sie wollen keine Verantwortung übernehmen. Wer etwas tut, kann markante Fehler machen. Wer nichts tut, macht nur den einen großen Fehler, dass er nichts tut, und der Fehler ist schwammig. Sie wollen niemanden enttäuschen, und dadurch enttäuschen Sie die Menschen. Würden Sie die Menschen enttäuschen, wären sie weniger enttäuscht.“

Er fragte: „Meinen Sie, Sie können mich dazu bringen, dass ich weiß, was ich will?“ Ich antwortete ihm: „Ich habe sehr raffinierte Methoden. Sie werden wissen, was Sie wollen, aber Sie werden denken, es hätte nichts mit mir zu tun.“