Ausbrüche

Ich bin es gewohnt, bei allem, was mir widerfährt und nicht gefällt, zu fragen: „Wofür kann ich das denn immerhin noch nutzen?“ Nun hatte ich vor einiger Zeit eine Magen-Darmgrippe. Ich wachte morgens auf und wusste: Es war nur eine Frage der Zeit, und ich würde mich übergeben. Mehrmals wahrscheinlich, vielleicht viele Male. Nun also: Wofür kann ich das noch nutzen? Ich widmete jeden Gang zum Bad einer Erfahrung, einer Zeit, einer Person, die mich verletzt hatte. Es waren kraftvolle, befreiende Ausbrüche, die mir in ausgezeichneter Erinnerung geblieben sind.

Mottenphobie

Gestern war ich bei Freunden zu Besuch. „Unsere Tochter hat eine Mottenphobie“, erzählten sie mir. „Jedesmal, wenn sie eine Motte in der Wohnung sieht, bekommt sie einen Schreianfall, und es gibt ein Riesentheater. Kannst du nicht etwas dagegen tun?“ „Ich weiß nicht, ob ich das kann“, sagte ich zur Tochter, die bei uns saß und gerade ein Glas Kakao trank. „Aber wenn du das nächste Mal eine Motte siehst, denke bitte nicht an Kakao und denke auch nicht daran, nicht an Kakao zu denken und nicht daran, wie dieser Kakao jetzt schmeckt und nicht daran, welches Gefühl in der Seele zum Kakao gehört, denn solltest du doch an Kakao und an das Gefühl in der Seele denken, das du jetzt durch das Trinken von Kakao bekommst, dann könnte es sein, dass du aus Versehen, obwohl du das vielleicht gar nicht vorhast, bei Motten Kakaogefühle bekommst. Und was wirst du dann tun, wenn du bei Motten anstatt des früheren lästigen Gefühls immer einen Anflug eines Eindrucks haben solltest, als ob du Kakao schmeckst und riechst und als ob du die Gefühle bekommen könntest, die doch eigentlich zum Kakao passen. Ja, was machst du dann?“ „Ist mir egal.“ „Oh“, sagte ich, „dann pass bitte auf! Denn wenn es dir egal ist, ob du bei Motten immer Kakaogefühle bekommst, dann musst du aufpassen, dass dir dabei nicht die Motte selbst egal wird, denn es wäre doch schade, wenn dir die Motte so egal würde, wie es dir egal ist, dass du bei Motten vielleicht Kakaogefühle bekommst…“ Eine Viertelstunde später sah das Mädchen eine Motte, ging ruhig darauf zu, schaute sie konzentriert an, schlug sie tot und setzte sich gelassen wieder hin.

Flucht aus Sodom

Als in der Bibel die Städte Sodom und Gomorra durch einen Regen von Feuer und Schwefel (also wohl durch einen Vulkanausbruch) vernichtet wird, gelingt Lot und seiner Frau durch Gottes Hilfe die Flucht. Es wird geschildert (Genesis 19, 24-26):

Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorra und vernichtete die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und was auf dem Lande gewachsen war. Und Lots Frau sah hinter sich und ward zur Salzsäule.

Ein Freund hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass diese Beschreibung einer posttraumatischen Belastungsstörung entspricht: Aus der Position, bereits gerettet zu sein, blickt ein Mensch zurück auf die Katastrophe, erstarrt in deren Anblick und wird (zumindest für eine Weile) gefühllos, handlungsunfähig, unlebendig.

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Die Inselblume

Auf einer kleinen Insel mitten im weiten Ozean wuchs eine wunderschöne goldgelbe Blume. Niemand wusste, wie sie dort hingekommen war, denn es gab sonst keine Blumen auf dieser Insel. Die Möwen kamen angeflogen,  um dieses Wunder zu bestaunen. „Sie ist schön wie die Sonne“, sagten sie. Die Fische kamen angeschwommen. Sie schauten aus dem Wasser, um sie zu bewundern. „Sie ist schön wie eine Koralle“, sagten sie. Ein Krebs kam an Land, um sie zu betrachten. „Sie ist schön wie eine Perle am Meeresgrund“, sagte er. Und sie kamen fast jeden Tag, um diese Blume zu bewundern.
Eines Tages, als sie wieder kamen, um nach der Blume zu schauen, fanden sie die goldenen Blätter der Blume braun und vertrocknet. „O weh“, sprachen die Möwen, die Fische und der Krebs. „Die Sonne hat unsere Blume versengt. Wer soll jetzt unser Herz erfrischen?“ Und alle waren traurig.
Doch einige Tage später war da an der Stelle der Blüte eine wunderbare zartweiße Kugel. „Was ist das?“, fragten die Tiere. „Es ist so weich wie eine Wolke“, sagten die Möwen. „Es ist so leicht wie die Gischt“, sagten die Fische. „Es ist so fein wie der Schimmer der Sonne im Sand“, sagte der Krebs. Und alle Tiere freuten sich.
Da fegte ein Windstoß über die Insel und wehte dieses weiße Wunder in tausend kleinen Flocken fort über die Insel. „O weh“, sprachen die Möwen, die Fische und der Krebs. „Der Wind hat unsere Kugel verweht. Was soll jetzt unser Gemüt erfreuen?“ Und alle waren traurig.
Eines Morgens, als die Sonne über dem Meer aufging, leuchteten da im goldenen Morgenlicht hunderte und nochmals hunderte von wunderschönen goldgelben Blumen. Da tanzten die Möwen am Himmel und die Fische im Wasser, und der Krebs tanzte mit seinen Freunden einen Reigen zwischen den Blumen, und alle freuten sich.

Der Seemann

Er war ein Seemann. Er war mit Frachtschiffen in verschiedene Länder entlang der Küsten von Europa, Afrika und Südamerika gefahren. Ob er einmal einen schweren Seesturm erlebt hätte, fragte ich ihn. „Ich habe viele Stürme erlebt“, sagte er. „Ich habe Stürme erlebt, bei denen ich dachte: Das überleben wir nie!“ Und da stand er vor mir und hatte überlebt und konnte erzählen, was er erlebt hatte. (Der Grashalm in der Wüste, S. 95 f.)

Die Geschichte erzähle ich Menschen, die vor einer Prüfung oder schweren Bewährungsprobe stehen. Sie leitet dazu an, über ein gedachtes Ende der Welt hinweg zu denken und sich bewusst zu machen, dass auch die früheren Enden der Welt (im Leben anderer Menschen oder im eigenen Leben) von einem neuen Tag gefolgt waren.

Die spanischen Eroberer

Hundert Jahre hatten sie gebraucht. Dann waren sie in Gibraltar angekommen. Die Reconquistada war beendet. Als die Spanier die ganze iberische Halbinsel von den Mauren zurückerobert hatten, fragte einer in die Runde: „Was machen wir jetzt?“ Ehrlich gesagt, hatte sich keiner diese Frage je gestellt. Sie hatten nur immer gekämpft. Und weil niemand eine Antwort wusste, eroberten sie Amerika.

Wie man die Therapie verkürzen kann I

Heute, morgen und übermorgen möchte ich in einem kleinen Dreiteiler Impulse dazu geben, wie eine hypno-systemische Ultrakurzzeit- Therapie aussehen kann. Metaphern und Geschichten lasse ich momentan außen vor, obwohl sie ebenfalls zu einer Verkürzung der Therapiezeit auf wenige Stunden beitragen. Also…

Wenn ein Klient oder eine Klientin in der ersten Stunde ihr Problem erklärt, dann wundere ich mich manchmal über die Probleme und Verhaltensweisen und darüber, woher das alles kommen mag. Ist es mehr die aktuelle Beziehung oder eine alte Traumatisierung, ist es die Familiengeschichte oder brauche ich überhaupt nicht zu wissen, was hintergründig das Problem verursacht?

Wie die meisten Therapeuten lasse ich den Klienten üblicherweise erst einmal erzählen, was ihn hergeführt hat. Manchmal gehe ich dann im Weiteren so vor:

Sobald seine Stimme bei einem markanten Wort brüchig klingt…
sobald er an einer interessanten Stelle hustet oder sich räuspert…
sobald er sich unterm Auge reibt, als trockne er eine Träne ab…
sobald sein Satz stockt, seine Stimme lahm oder leise wird…
sobald sein Atem gepresst, gelähmt, gestresst wirkt…
sobald die Mimik ein wenig schmerzvoll, angespannt, belastet ist…
sobald ich etwas sehe oder höre, das emotional belangvoll scheint… Weiterlesen

Verguckt

Letzte Woche Samstagmittag: Ich bin durch die Fußgängerzone gelaufen und hab mich gewundert, dass ich so schlecht sehe. Woran hängt’s? Spätfolgen der Augenlaser-OP vom letzten Herbst? Normalerweise sehe ich 100%ig. Hat das Auge gerade beschlossen, irgendwelches abgestorbene Gewebe in Schlieren über das Gesichtsfeld laufen zu lassen? Ich fand keine Erklärung.

Abends auf der Autobahn: Ich schaute angestrengt nach vorne und probierte günstige Augenwinkel aus. Wo sind die Autos? Was ist hier eigentlich los? Mein freundliches Unbewusstes hat mir dann die Antwort gegeben. Ich war gerade 3 Tage auf einer Traumatagung gewesen, hatte meine Biographie aufgearbeitet, hatte mich danach ordentlich in jemanden „verguckt“, hatte wiederum diesem Ereignis nachgegrübelt und mir dabei eine kleine Konversionsstörung eingefangen. Das sind organisch unbegründete Körpersymptome, die etwas Seelisches ausdrücken – meistens sehr metaphorisch.

Sobald ich mich fragen konnte: „Was ist denn gerade so anstrengend anzugucken?“, war – schwupp! – die Sehstörung verschwunden. Sowas gibt’s. Und ist gar nicht so selten.