Lesenswert: Hoffsümmers Kurzgeschichten

Das ist der zweitletzte Beitrag der Reihe über Kurzgeschichtensammlungen.

1800 Geschichten – die größte deutschsprachige Sammlung metaphorischer Ultrakurzgeschichten dürfte die von Willi Hoffsümmer sein. Eigentlich ist die Sammlung für das kirchliche Umfeld geschrieben, und so findet sich ein besonderer Schwerpunkt von Geschichten mit religiösen und ethischen Fragestellungen. „Kurzgeschichten 1, 255 Kurzgeschichten für Gottesdienst, Schule und Gruppe“, so heißt der Titel des ersten von acht Bänden. Die weiteren Bände sind in der gleichen schlichten Weise überschrieben.

Wahrscheinlich zur Umgehung des Copyrights gibt Hoffsümmer die Geschichten in eigenen Worten gekürzt wieder – und gerade dadurch erhöht sich die Einprägsamkeit und die Anwendbarkeit der Geschichten für Beratung und Therapie. Inzwischen sind die ersten fünf Bände – das sind über 1000 Geschichten – auch in digitaler Form erhältlich, was das suchen von Geschichten nach Schlagworten nochmals vereinfacht. Allerdings sind auch die Bücher schon mit ausführlichen Registern versehen, die natürlich nicht unter therapeutischen Gesichtspunkten, sondern nach Kriterien von Seelsorgern, Religions- und Ethiklehrern sortiert sind.

Ein riesiges, wertvolles Nachschlagewerk für alle, die mit Metaphern und Besipielgeschichten arbeiten!

Willi Hoffsümmer (Hrsg.), Kurzgeschichten 1, 255 Kurzgeschichten für Gottesdienst, Schule und Gruppe. Mainz (Grünewald) 1999. Sieben weitere Bände sind erschienen.

Willi Hoffsümmer (Hrsg.), Mehr als 1000 Kurzgeschichten, CD-ROM. Mainz (Grünewald) 2000.

Lesenswert: Handbook of Hypnotic Suggestions

Das hier ist der drittletzte Beitrag meiner Reihe zu Geschichten- sammlungen für Berater…

Corydon Hammond’s „Handbook of Hypnotic Suggestions and Metaphors“ ist die beste und umfangreichste Sammlung hypnotischer Verfahren auf dem Markt. Da gibt es für mich keine Diskussion. Da müsste mir jemand erstmal etwas Besseres nennen. Das ist eine Enzyklopädie mit Hypnose-Skripten zu gesundheitlichen, psychologischen, sozialen und beruflichen Zielsetzungen. Ein phantastisches Nachschlagewerk: Ob Daumenlutschen oder Nagelbeißen, tropfende oder trockene Nase, Haarereißen, Tourette-Syndrom, Tinnitus, Heuschnupfen oder Asthma, es steht was drin. Ob es um mathematische Referate geht, um sportliches Mentaltraining oder um künstlerische Verfeinerung – da steht’s geschrieben. Ob Sexualstörungen oder Deprogrammierung gehirngewaschener Sektenaussteiger, das Buch liefert Ideen. Auch zu suggestiven Grundmethoden, unabhängig von allen spezifischen Fragen, ist ein großer Abschnitt vorhanden.

Der einzige Haken ist, dass das Buch auf Englisch geschrieben und nicht in deutscher Übersetzung erhältlich ist. Ob’s aber ein Nachteil ist? Bis ich nämlich ein Hypnoseskript schriftlich übersetzt habe, habe ich es auch schon verinnerlicht und viele Ideen zu seiner individuellen Umsetzung gewonnen.

Nochmal: Für Hypnotherapeuten, die auf lange Zeit hin ihre Fähigkeiten erweitern möchten, ist dieses Buch das beste, was es gibt. Und wahrscheinlich auch für manche, die sich privat für Hypnose interessieren, äußerst spannend zum Stöbern!

D. Corydon Hammond (ed.), Handbook of Hypnotic Suggestions and Metaphors.
New York, London (Norton) 1990

Die Geiß retten

„Kehr an der nächsten Straßenkreuzung um! Wir müssen der Geiß helfen!“ sagte meine Freundin eindringlich. Rechts von uns war an der Straße eine hohe Stützmauer zu sehen, darüber auf einer Wiese eine Herde grasender Ziegen. Eine einzige junge Ziege stand verloren unter der Mauer. War sie heruntergefallen? War sie in jugendlicher Selbstüberschätzung einfach heruntergesprungen? Offensichtlich konnte sie nicht mehr zurück zu den Anderen. Ratlos und einsam stand sie am Straßenrand. Wir machten kehrt. Verbotsschilder und Einbahnstraßen verwiesen uns auf einen längeren Umweg, aber schließlich kamen wir doch wieder an den Ort. Die Ziege stand noch an genau demselben Platz. Langsam näherten wir uns. Sie sah uns an, sah nach oben – und war mit einem flinken Sprung wieder bei den anderen.

Ventile

Es gibt Ingenieure, die konstruieren Ventile. Sie konstruieren nichts als Ventile, den ganzen Tag. Nun könnte einer meinen: Das ist doch langweilig, sich so viel mit Ventilen zu beschäftigen. Aber es ist ein sehr interessantes Feld. Da gibt es Ventile für Luft und Ventile für Weiterlesen

Die Brille

Heute Nacht hatte ich einen Traum.

Mein linker Brillenbügel war verbogen und ich wollte ihn reparieren, damit die Brille wieder gut sitzt. Ich habe ihn zweimal hin und her gebogen – und dann war er ab. Ich habe ihn an die Brille gehalten. Er war am Scharnier abgebrochen. Reparieren ließ sich das nicht mehr. Was tun? Ich habe die Brille angezogen, in der Hoffnung, dass sie noch einigermaßen sitzt. Aber sie hing mir schräg auf dem Gesicht. Der Blick durch die Gläser war verzerrt, und ungemütlich war es auch. Man musste sie ständig festhalten. Der Optiker hat sonntags zu. Was ist in einem solchen Fall die beste Lösung? Ich dachte nach.

Da fiel mir ein: Ich habe mir vor über einem halben Jahr die Augen gegen Kurzsichtigkeit lasern lassen. Warum trage ich denn diese doofe Brille überhaupt noch? Und ging ohne weiter.

Der Grund, warum Metaphern in der Beratung so eine unglaubliche Wirkung haben, ist der, weil unser Unbewusstes in Metaphern organisiert ist: Unsere Träume sind Metaphern. Selbst die Rituale der Tiere beim Balzen und beim Klären von Rangordnungen sind Metaphern. Bevor wir in Sprache gedacht haben, haben wir in Metaphern gedacht. Darum haben die Propheten und Weisen aller Zeiten Geschichten erzählt. Und dieser Traum wird mir Anlass geben, mir die Brille anzuschauen, durch die ich meine Welt betrachte. Diesmal werde ich mich nicht mit Reparieren aufhalten.

Der Geschichtenerzähler (X)

Es kommt, wie es kommen muss, die zehnte und letzte Folge…

„So erzähle doch du uns eine Geschichte, wie sie der Meister dich gelehrt hat“, sagten die Leute. „Wenn ihr es wünscht“, sprach der Schüler.

„Es wird Zeit, dass du erwachsen wirst“, sagte die Mutter und gab ihrem Sohn einen Löffel Brei. „Was ist das, ‚erwachsen’?“, fragte er. „Du bist jetzt dreißig“, sagte die Mutter und wischte ihm mit ihrem Tuch den Mund ab. „Dreißig, das ist erwachsen.“

Damit verbeugte sich der Schüler, der keiner mehr war, und ging in das Haus seines Meisters.

* ENDE *

Der Geschichtenerzähler (IX)

Nun also die neunte und zweitletzte Folge…

„Sollten wir denn ein Boden sein für diese Saat?“, so fragten ihn die Leute. „Die Saat, wenn sie aufgegangen ist, gleicht der Pflanze, die sie hervorgebracht hat. Wie können wir deinem Meister je gleichen?“ protestierten sie. „Er hat uns viel zu früh verlassen. Wir müssten noch so vieles hören.“ „Hören allein ist wie Sonne ohne Regen“, sagte der Schüler. „Soll das denn heißen, wir sollten jetzt schon in die Nachfolge des Meisters treten?“ rief ihm nun einige zu. „Wir sind ja überhaupt noch nicht so weit. Wir sind noch gar nicht fertig! Wir haben ja erst angefangen.“ Der Schüler erwiderte:

„Fertig!“, rief das Ei, als es gelegt war. „Jetzt bin ich fertig!“ rief die Kaulquappe, als sie geschlüpft war. „Jetzt bin ich ganz fertig!“ rief das Geschöpf, als es zwei Beine hatte. „Jetzt endlich bin ich ganz und gar fertig!“ rief das Wesen, als es vier Beine und einen langen Schwanz hatte. „Wer weiß, was nun noch kommen mag…“, sagte der Frosch, als er fertig war.

„Bedenkt, wie euer Meister angefangen hat…“

Und morgen geht’s weiter.

Der Geschichtenerzähler (VIII)

Es kommt noch was…

Da standen sie vor ihm, die Leute des Volkes. Zu Hunderten waren sie gekommen. Und er stand vor ihnen. Was sollte er sagen? „Der Meister, dessen Worte ihr vernehmen wollt, ist tot“, sprach er. „In dieser Nacht ist er gestorben. Doch hat er mir zuvor noch aufgetragen, ich solle heute zu euch sprechen.“ „Aber weißt du denn auch“, fragten die Leute ihn noch einmal, „was der Meister uns gerne sagen wollte?“ „Ich höre es“, sagte er, und begann zu erzählen:

Auf einer kleinen Insel mitten im weiten Ozean wuchs eine wunderschöne goldgelbe Blume. Niemand wusste, wie sie dort hingekommen war, denn es gab sonst keine Blumen auf dieser Insel. Die Möwen kamen angeflogen, um dieses Wunder zu bestaunen. „Sie ist schön wie die Sonne“, sagten sie. Die Fische kamen angeschwommen. Sie schauten aus dem Wasser, um sie zu bewundern. „Sie ist schön wie eine Koralle“, sagten sie. Ein Krebs kam an Land, um sie zu betrachten. „Sie ist schön wie eine Perle am Meeresgrund“, sagte er. Und sie kamen fast jeden Tag, um diese Blume zu bewundern.
Eines Tages, als sie wieder kamen, um nach der Blume zu schauen, fanden sie die goldenen Blätter der Blume braun und vertrocknet. „O weh“, sprachen die Möwen, die Fische und der Krebs. „Die Sonne hat unsere Blume versengt. Wer soll jetzt unser Herz erfrischen?“ Und alle waren traurig.
Doch einige Tage später war da an der Stelle der Blüte eine wunderbare zartweiße Kugel. „Was ist das?“, fragten die Tiere. „Es ist so weich wie eine Wolke“, sagten die Möwen. „Es ist so leicht wie die Gischt“, sagten die Fische. „Es ist so fein wie der Schimmer der Sonne im Sand“, sagte der Krebs. Und alle Tiere freuten sich.
Da fegte ein Windstoß über die Insel und wehte dieses weiße Wunder in tausend kleinen Flocken fort über die Insel. „O weh“, sprachen die Möwen, die Fische und der Krebs. „Der Wind hat unsere Kugel verweht. Was soll jetzt unser Gemüt erfreuen?“ Und alle waren traurig.
Eines Morgens, als die Sonne über dem Meer aufging, leuchteten da im goldenen Morgenlicht hunderte und nochmals hunderte von wunderschönen goldgelben Blumen. Da tanzten die Möwen am Himmel und die Fische im Wasser, und der Krebs tanzte mit seinen Freunden einen Reigen zwischen den Blumen, und alle freuten sich.

„Ihr müsst wissen“, sagte der Schüler zum Volk, „dass jeder Mensch, der auf der Erde wandelt, auf ihr seine Spuren hinterlässt. Keine Blume verblüht, ohne zuvor ihre Saat zu verstreuen.“

Und morgen geht’s weiter.