Die Sorgenschleuder

Als wir noch Schüler waren, spannten wir manchmal ein Gummiband zwischen zwei Fingern einer Hand, um gefaltete und geknickte Papierschnipsel auf andere Schüler zu schießen, oder auf den Lehrer, der mit dem Rücken zur Klasse an der Tafel stand. Das war zwar verboten, sorgte aber für eine ausgezeichnete Unterhaltung in der Klasse und vertrieb alle Langeweile. Mit einer zurechtgesägten Astgabel und einem Einmachgummi ließen sich sogar Steinschleudern bauen, deren Kraft wir aber lieber nicht an lebenden Wesen erprobten.
Immer wieder denke ich heute an diese Gummischleudern. Weiterlesen

Schönheit

Als ich vor vielen Jahren geheiratet habe – ja, ich war auch einmal verheiratet – da kauften meine Braut und ich uns goldene Ringe. Es gab polierte und mattierte, und wir wählten uns glänzende, polierte Ringe. Um die selbe Zeit heiratete auch ein befreundetes Paar. Sie kauften sich mattierte Ringe. Als wir unsere Ringe nach einigen Jahren nebeneinander hielten und sie miteinander verglichen, stellten wir fest: Es gab zwischen ihnen keinen Unterschied mehr: Die glänzenden Ringe waren etwas matt geworden, die matten etwas glänzend.Sie hatten sich vollständig aneinander angeglichen.

Ich kannte Leute, die begegneten sich und fanden einander wunderschön. Als sie einige Jahre zusammen waren, mochten sie sich immer noch, aber sie sagten: „Die Schönheit fällt uns gar nicht mehr auf. Sie ist normal geworden.“ Ich kannte einen Mann, der ein Model zur Freundin gehabt hatte; er hat sich von ihr getrennt. Er sagte: „An die Schönheit habe ich mich nach einigen Jahren gewöhnt; was dann noch zählte, war der Charakter.“ Ich kannte Menschen, die fanden einander nicht sehr schön und lernten einander dennoch lieben. Und die Frau sagte zu mir: „Nachdem ich begonnen habe, meinen Freund zu lieben, wurde er für mich von einem hässlichen Menschen zum schönsten Menschen der Welt. Und das ist er für mich geblieben.“

Ich werde hundertfünfzig Jahre alt

Herzlichen Glückwunsch, Johannes Heesters!

Der Schauspieler feiert heute seinen 104. Geburtstag. Schon komisch, wenn ein Mensch, der immer wieder gesungen hat „Ich werde hundert Jahre alt“ und nach dem Krieg bei dem Theaterstück „Der 106. Geburtstag“ mitgespielt hat, sein hundertfünftes Lebensjahr antritt. Besteht da ein Zusammenhang?

Aktuell hat Heesters erklärt, zu seinen „zehn wichtigsten Wünschen“ zähle, „dass ich wieder Theater spiele, am liebsten das Stück ‚Der 106. Geburtstag'“ und „dass ich meinen 105. Geburtstag feiere, und wenn es 110 würden, wär‘ das auch nicht schlecht“.

Sicher ist die Überzeugung, hundert zu werden, keine Garantie dafür, dass man das tatsächlich erlebt. Ich kannte einen Mann, der auch angekündigt hat, hundert zu werden, und der dann schon mit siebenundachtzig gestorben ist.

Andererseits: Einige Forscher wollten gerne wissen, warum die Lachse nach dem Laichen sterben. Sie fischten eine Anzahl der Tiere aus dem Fluss, versahen sie mit einem Sender und setzten sie zurück ins Meer. Siehe da: Die Tiere lebten munter weiter. Längere Lebenerwartung dank der Erwartung längeren Lebens.

Vieles spricht dafür: Wenn alle erwarten würden, länger zu leben, würden einige tatsächlich länger leben. Darum, ihr Lieben, sag ich’s allen: Ich werde hundertfünfzig Jahre alt…

Mentale Spiele II

Ich kannte einen Mann, der hatte die seltsame Gabe, den Unterleib beim Gehen einfach abzuschrauben. So wie ein Marmeladenglas von dem Deckel, oder umgekehrt. Der Körper lief dann neben diesem Mann einher, dieweil sein Oberkörper ihn von oben her beaufsichtigte. Manchmal entfernten sich die Beine, Bauch und Po auch einige hundert Meter, doch niemals liefen sie davon, immer kamen sie zurück. Am Ende des Spaziergangs schraubten Oberteil und Unterteil sich wieder fest zusammen. Dann sagte der Kopf: Wie froh bin ich, dass ich mir das Gejammer der Beine auf diesem langen Weg nicht habe anhören müssen. Die Beine sagten: Gut, dass wir unfreundlichen Ermahnungen und all die Durchhalteparolen des Kopfes nicht länger mit anhören mussten. Und alle waren glücklich und zufrieden und tranken gemeinsam eine Tasse Tee und erzählten sich, was sie jeder an seinem Ort auf ihrer Wanderung erlebt hatten.

Natürlich kann man mit dieser Methode beliebige Körperteile dissoziieren, auch mehrere zur gleichen Zeit und in unterschiedlichem Grad. Das Vorgehen lässt sich beim Sportmentaltraining einsetzen, beim Überstehen unangenehmer medizinischer Untersuchungen, wie überhaupt zur hypnotischen Anästhesie bzw. zur emotionalen Distanzierung von belastenden Ereignissen, wie Mobbing oder Katastropheneinsätzen. Menschen, die wiederholt Gewalt erlitten haben, entwickeln manchmal ähnliche Strategien, die durchaus Schutz bieten. Methoden wie diese können bei einigen Personen allerdings so gut funktionieren, dass sie sich selbst Schaden zufügen, etwa durch körperliche Überforderung oder verspäteten Arztbesuch.

Die Inselblume

Auf einer kleinen Insel mitten im weiten Ozean wuchs eine wunderschöne goldgelbe Blume. Niemand wusste, wie sie dort hingekommen war, denn es gab sonst keine Blumen auf dieser Insel. Die Möwen kamen angeflogen,  um dieses Wunder zu bestaunen. „Sie ist schön wie die Sonne“, sagten sie. Die Fische kamen angeschwommen. Sie schauten aus dem Wasser, um sie zu bewundern. „Sie ist schön wie eine Koralle“, sagten sie. Ein Krebs kam an Land, um sie zu betrachten. „Sie ist schön wie eine Perle am Meeresgrund“, sagte er. Und sie kamen fast jeden Tag, um diese Blume zu bewundern.
Eines Tages, als sie wieder kamen, um nach der Blume zu schauen, fanden sie die goldenen Blätter der Blume braun und vertrocknet. „O weh“, sprachen die Möwen, die Fische und der Krebs. „Die Sonne hat unsere Blume versengt. Wer soll jetzt unser Herz erfrischen?“ Und alle waren traurig.
Doch einige Tage später war da an der Stelle der Blüte eine wunderbare zartweiße Kugel. „Was ist das?“, fragten die Tiere. „Es ist so weich wie eine Wolke“, sagten die Möwen. „Es ist so leicht wie die Gischt“, sagten die Fische. „Es ist so fein wie der Schimmer der Sonne im Sand“, sagte der Krebs. Und alle Tiere freuten sich.
Da fegte ein Windstoß über die Insel und wehte dieses weiße Wunder in tausend kleinen Flocken fort über die Insel. „O weh“, sprachen die Möwen, die Fische und der Krebs. „Der Wind hat unsere Kugel verweht. Was soll jetzt unser Gemüt erfreuen?“ Und alle waren traurig.
Eines Morgens, als die Sonne über dem Meer aufging, leuchteten da im goldenen Morgenlicht hunderte und nochmals hunderte von wunderschönen goldgelben Blumen. Da tanzten die Möwen am Himmel und die Fische im Wasser, und der Krebs tanzte mit seinen Freunden einen Reigen zwischen den Blumen, und alle freuten sich.

Der Duft des Brotes

„Frau“, sprach der Bäcker, „ich werde älter und meine Kräfte lassen nach. Ein Leben lang habe ich Brot für dieses Dorf gebacken. Ja, von weither sind die Leute gekommen, um meine Brötchen zu kaufen. Wenn jetzt der Tag kommt, dass ich die Teigschüssel aus der Hand legen muss, wer wird dann das Geschäft weiterführen?“ Die beiden hatten keine Kinder. „Geh hin“, sprach die Frau, „such dir einen jungen Mann, der dir zur Hand geht, und den du alles lehren kannst von deiner Kunst. Wenn du alt bist und nicht mehr arbeiten kannst, soll er den Laden weiterführen und du sollst stolz auf ihn sein wie auf einen Sohn.“ Der Bäcker ließ also in den umliegenden Dörfern verbreiten, er suche jemand, der gerne Brot bäckt und der dieses Handwerk bei ihm lernen möchte. In den kommenden Tagen stellten sich bei ihm vier junge Männer vor, und er hatte die Qual der Wahl. Und da ihm die Entscheidung schwer wurde, ging er zu seiner Frau und fragte sie. Sie sagte: „Hol alle noch einmal her. Ich will dir sagen, welchen du nehmen sollst.“ Weiterlesen

Anton

Weinglas

Ich habe Anton beerdigt.

Als Anton zwanzig war, bereiste er die Welt. Am liebsten besuchte er Frankreich. Seine Frau und die Kinder ließ er zuhause. Wenn er in der Heimat war, trieb er sich am liebsten in Gaststätten herum. Bier und Zigaretten waren ihm wichtiger als seine beiden Töchter.

Als Anton zweiundzwanzig war, wurde er geschieden. Seinen Unterhaltsverpflichtungen kam er nicht nach. Er vertrank sein Geld.

Als Anton sechsundzwanzig war, sah er seine Töchter zum letzten Mal. Seine ehemalige Frau verbot ihnen ab da jeden weiteren Kontakt.

Als Anton fünfundfünfzig war, hatte er einen Freund, der das Geld, das er verdiente, für ihn verwaltete und das meiste für sich selbst behielt. Außerhalb der Arbeitszeit war er meistens besoffen. Solange das Geld für Alkohol und Zigaretten reichte, sei er zufrieden, sagte er.

Als Anton einundsechzig war, hörte er auf zu trinken. Das war die Zeit, als er Frieda kennen lernte. Anton verehrte Frieda. Frieda hatte ihr ganzes Leben in einem kleinen Haus auf dem Lande verbracht und sich nie in ihrem Leben für Alkohol interessiert. Weiterlesen

Wer leben will

In der Klinik, in der ich arbeite, treffe ich Patienten, die hoffen, zu sterben, obwohl sie relativ gesund sind. Oder sie hoffen, von einer Operation nicht mehr aufzuwachen, oder sie bitten mich, sie zu töten.

Ich treffe andere Patienten, die versuchen mit aller Kraft, zu überleben, obwohl dies nach ärztlichem Ermessen ausgeschlossen scheint. Oder sie versuchen, ihr Leben noch ein wenig zu verlängern, obwohl sie unter Schmerzen leiden und keine Aussicht auf Verbesserung haben.

Immer wieder treffe ich todunglückliche Fastgesunde und lebensvolle Baldsterbende. Der Unterschied ist der: Die aus der ersten Gruppe haben niemanden, der sich um sie kümmert. Die aus der zweiten Kategorie haben Partner, Kinder, Enkel und Freunde, die sich liebevoll um sie kümmern.

Wer leben will, will für jemanden leben.