Möwenfelsen

Hier ist eine Geschichte, die ich Kindern aus Patchwork-, Adoptiv- und Pflegefamilien erzähle. Entwickelt habe ich sie zuerst für eine sehr introvertierte Jugendliche, die im gemeinsamen Urlaub – heimlich, auf eigene Initiative und ohne Erlaubnis ihrer Adoptiveltern – begonnen hat, Paragliding zu lernen.

Vielleicht hast du auch schon einmal an einem Möwenfelsen gestanden und horchtest auf das vielfältige Rufen dieser Vögel. Es ist ein beeindruckender Klang, wenn Tausende von Möwen um einen Felsen fliegen und die Luft mit ihren Schreien erfüllen. Aber du hörst dort nicht nur Schreie. Du hörst auch etwas anderes. Du hörst dort auch die zarten Töne, wenn die Möwen balzen, wenn sie werben. Du hörst die rauen, krächzenden Töne der Jungen, wenn sie frisch geschlüpft sind und nach Futter rufen. Ihr Ruf ist deutlich, sie fordern, was sie brauchen! Sie rufen, als ob sie Gerechtigkeit fordern: „Hier bin ich, ich will wachsen und stark werden.“
Du kannst dort sehen, wie liebevoll die Möweneltern für ihre Kinder sorgen. Wieder und wieder fliegen sie weg und kehren zurück mit einem Fisch im Schnabel für ihre Jungen. Warum tun sie das tagein, tagaus? „Instinkt“, nennen es manche Forscher. Ich nenne es Liebe. Denn wieder und wieder sind sie auf der Suche nach dem, was ihre Kinder stärkt. Sie fragen nicht, ob es regnet oder stürmt oder schneit. Sie suchen Futter für die Möwenjungen. Auch habe ich gehört: Wenn eine Möwe nicht für ihre Jungen sorgen kann, dann springt oft eine andere für sie ein. Sie behandelt sie wie ihre eigenen Kinder. Sie fragt nicht nach Regen oder Sturm oder Schnee. Sie fliegt für diese Küken, die bald schon keine Küken mehr sein werden. Ja, bald schon werden diese Vögel selbst sicher fliegen und bewusst ihre eigenen Bahnen durch die Luft ziehen. Es ist gut, wenn man auf einem Felsen wohnt, wo viele andere Möwen leben…

5 Gedanken zu „Möwenfelsen

  1. Ich wünsche jedem Adoptiv- oder Pflegekind, dass es gute Adoptiv- oder Pflegeeltern findet und sich dort angenommen und wohl fühlen kann.

    Es ist nicht immer einfach an gute „Zieheltern“ zugeraten.

    Judith

  2. Sehr geehrter Herr Hammel,
    ich lese mit grossem Interesse Ihre Metaphergeschichten. Diese möchte ich bei meinem Enkel (11)einem Asperger und seiner Schwester (7)zum Einsatz bringen.
    Ihm wird vielleicht die Liebe erklärbarer, der Schwester wird es Sicherheit geben. Ich werde Ihnen vom Erfolg berichten.
    Ich danke vielmals für die wunderbaren Anregungen die wir durch Sie erfahren dürfen.
    Mit freundlichen Grüssen
    Edith Thorma

  3. Sehr geehrte Frau Thorma,
    Es ist schön, was Sie erzählen, und vielen Dank für Ihre Anerkennung! Ich freue mich sehr, wenn Sie mir von der Wirkung erzählen und bin gespannt… Ihnen, Ihrer Familie und ganz besonders den Enkeln von Herzen alles Gute!

  4. Sehr geehrter Herr Hammel,
    die Möwen-Geschichte hat meine Enkel und mich lange beschäftigt. Erst waren sie sehr unsicher. Vögel die einander helfen. Mit Hilfe des Internet haben wir dann viele Tierarten gefunden, die sich gegenseitig helfen.
    Welche Menschen helfen einander? Manchmal ganz Fremde, darf ich Hilfe annehmen, darf ich helfen, darf ich um Hilfe bitten. Wann ist es ein Ausnützen des Anderen? Haben die Kleinen immer Anspruch auf Hilfe der Großen? Ist Trösten Hilfe? Mir wurde das erste mal bewusst, wie vielfältig das Thema ist. Es hat bei vielen Themen geholfen uns zu verstehen und auch Verständnis zu haben. Vor allen Dingen aber aufmerksamer zu sein, wer unsere Hilfe braucht. Nach seinen Erzählungen hat mein Enkel das Thema auch ins Training für soziale Kompetenz mit eingebracht. Ich glaube gerade in der Adventszeit und den damit verbundenen Geschichten wird die Geschichte noch einmal sehr präsent werden.
    Am Tag nach der Geschichte haben die Geschwister, nach sehr langer Zeit,
    wiedereinmal zu zweit im Doppelbett geschlafen. Der große Bruder hat auch schon zweimal seither bei seiner Schwester im Zimmer übernachtet.
    Der einzige Grund, sie wollten das so.
    Ich hoffe, dass Sie mit den Informationen etwas anfangen könne
    Danke
    Edith Thorma

  5. Sehr geehrte Frau Thorma, ich finde es schön, dass Sie mit Ihren Enkeln der Sache so genau nachgehen. Und noch schöner, dass die beiden wieder zu mehr Nähe und Gemeinsamkeit gefunden haben. Wenn Sie möchten und es für Sie passt, grüßen Sie doch Ihre Enkel ganz herzlich von mir!
    Herzlichst! Stefan Hammel

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