Die Expedition (Der stille Gregor, Fortsetzung)

Ich habe euch neulich vom stillen Gregor erzählt. In der letzten Therapiestunde ließ ich ihn auch einer Spielzeugkiste einige Gegenstände heraussuchen. Er wählte sich ein Geländeauto und einen grünen Edelstein. Ich wählte ihm noch einen kleinen Vogel aus, der sang, wenn man ihn anfasste. Dann bat ich ihn, die drei Dinge vor sich hinzustellen und sie anzuschauen. Dann erzählte ich ihm das Folgende:

In Afrika lebte ein Mann, der war ein Forscher, ein Biologe. Er war beliebt bei seinen Freunden und in seiner Familie, aber er hatte etwas schlimmes erlebt, und seitdem hatte es ihm die Stimme verschlagen. Er redete fast gar nicht mehr und mit fast niemandem. Das machte den anderen Sorge, aber sie konnten nichts dagegen tun. Er war eben still. Einmal wollte er sich auf eine große Reise machen mit seinem Geländefahrzeug. Er wollte einen seltenen Vogel entdecken, die einen wunderbaren Gesang haben sollte, und er wollte dessen Sprache lernen. Dieser Vogel war den Wissenschaftlern noch fast unbekannt, kaum jemand hatte ihn je gesehen. Da besuchte ihn ein Freund, um ihm alle Gute für die Reise zu wünschen. Der Freund gab ihm einen seltsamen grünen Stein und sagte: „Dieser Stein soll dich begleiten und eine gute Kraft auf dich ausüben. Du wirst die Sprache der anderen lernen.“ Der Mann verstand nicht,was sein Freund meinte, doch fragte er nicht nach, sondern bestieg sein Fahrzeug und machte sich auf die Reise.

Immer unwegsamer wurden die Straßen, die er befuhr. Bald waren es nur noch Lehmpfade, und immer weiter führte sein Weg. Er übernachtete in afrikanischen Dörfern. Mit dunkelhäutigen Männern und Frauen saß er abends um das Lagerfeuer. Er lernte ihre Geschichten. Er lernte ihre Lieder zu singen und ihre Sprache zu sprechen.Manchmal sah er den Stein an, den sein Freund ihm gegeben hatte und fragte sich, was er wohl gemeint hatte, als er ihm sagte: „Du wirst die Sprache der anderen lernen“.

Manche gaben ihm Hinweise zu dem Vogel, den er suchte, und dessen Sprache er erlernen wollte. Doch nirgends fand er das Tier. Lange, lange suchte er. Bis er eines Abends etwas hörte, einen wunderbaren Klang, den er noch nie vernommen hatte…

Es dauerte eine Zeit, bis er die Sprache des Vogels ein wenig verstand, und noch eine Zeit, bis er sie anfing, auch selbst sprechen zu können. Nach und nach antwortete ihm der Vogel, und er antwortete ihm. Es war wie ein Gespräch, wie eine Freundschaft, die sie geschlossen hatten. Immer wieder auch fiel ihm der Stein in die Hand, den der Freund ihm gegeben hatte, und er dachte an dessen Worte: „Du wirst die Sprache der anderen lernen“.

Der Mann machte viele Notizen und Tonaufnahmen für einen wissenschaftlichen Bericht über seine Reise. Dann nahm er Abschied von dem Vogel und machte er sich wieder auf den Weg. Wieder kam er zu den Hütten der Eingeborenen, und wieder saßen sie an den Lagerfeuern. Er erzählte ihnen von dem Vogel. Er erzählte davon, wie er seine Sprache gelernt hatte. Die dunklen Männer und Frauen hörten ihm zu. Und er dachte an die Worte des Freundes, als ihm dieser den wunderbaren Stein gegeben hatte: „Du wirst die Sprache der anderen lernen“.

Weiter und weiter fuhr er über die Lehmpisten. Er dachte nach über den wissenschaftlichen Bericht, den er veröffentlichen wollte. Da bemerkte er, dass ihm dieser Bericht gar nicht mehr so wichtig war. Er war weggefahren, um einen Vogel zu entdecken, und er hatte gelernt, die Sprache von Tieren und von anderen Menschen zu sprechen. Er hatte gelernt anstatt in seiner Sprache in deren Sprache zu denken und zu reden. Ihm wurde bewusst, dass das die eigentliche Entdeckung dieser Reise war und sein Bericht nur ein Nebenergebnis.

Als er zuhause ankam, fragten ihn seine Freunde: „Hast du den Vogel gefunden? Hast du ihn singen gehört? Hast du seine Sprache gelernt?“ Und er erzählte ihnen eine lange Geschichte…

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