Die Insel der Liebe

Als Paartherapeut habe ich manchmal goldige, süße, nette Paare vor mir sitzen, die sich trennen wollen oder müssen – und leider kann ich sie daran nicht hindern. Andere Male gibt es sehr merkwürdige Paare, zu denen ich am liebsten sagen möchte: „Warum trennt ihr euch eigentlich nicht“ Aber sie bleiben zusammen, warum auch immer. Wenn die Paare mir auf die eine oder andere Art allzu sonderbar werden, dann erzähle ich ihnen manchmal eine Geschichte. So wie diese:

Weit draußen im Meer vor der Küste, hinter dem Stürmischen Kap, befindet sich eine kleine Insel. So klein ist sie, dass sie nur auf den allergenauesten Karten verzeichnet ist. Trotzdem besitzt sie in kundigen Kreisen eine gewisse Berühmtheit. Die Seeleute nennen sie die „Insel der Liebe“.
Nicht wenige Menschen machen irgendwann in ihrem Leben – oder auch mehrmals – eine längere Reise dorthin. Sie erkunden diese Insel genau. Dabei entdecken sie erstaunliche Dinge.
So meinen manche, bevor sie die Insel genauer kennen, von der Küste der Verliebtheit gleich auf den Hügel der Heimat zu kommen und sind überrascht, welch langer Weg sie durch das Rätselhafte Tal der Mitte dorthin führt. Einige zeigen sich verwundert, dass es en nicht möglich ist, die sanften Hänge des Vertrauten zu besuchen und gleichzeitig am Gipfel der Erregung zu sein. Andere freuen sich schon auf den Kessel der Leidenschaft – so nennt man den größten Vulkankrater auf der Insel. Doch sind sie erstaunt, dass der Anstieg ziemlich anstrengend ist und vorbei führt an den brodelnden Spalten der Angst und dem rauchenden Schlot des Zorns. Wer Gefahr sucht, badet an den Klippen des Scheiterns beim Kap der Überforderung. Doch auch am östlich gelegenen Ozean der Langeweile sind selbst geübte Schwimmer schon in Seenot geraten und gar ertrunken. Ich sage das, weil oft vergessen wird, dass die ganze Schönheit dieses Ortes nur die finden, die die Insel unter Mühen und Gefahren erwandern.
Mancher baut sich ein Haus auf der Insel oder schlägt dort ein Zelt auf. Und die, die schon lange da wohnen, habe ich lächeln sehen über den Eifer der Neuankömmlinge, die noch Hoffnung hegen, die Insel der Liebe in nur einem Tag oder einer Woche zu erkunden.

(Hammel, Der Grashalm in der Wüste, S. 66)

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