Der Goldmacher

Jetzt erzähle ich mal wieder eine Geschichte. Ich verwende sie, um Menschen anzuregen, in scheinbar aussichtslosen Situationen nach einer Sichtweise zu suchen, die aus der Bedrohung eine Chance und aus der Not eine Tugend macht. Therapeutisch gesprochen hilft die Geschichte, belastende Lebenssituationen zu reframen (neu zu deuten) und Problemstrukturen aktiv zum Gestalten von Lösungen zu utilisieren.

In den alten Zeiten lebte bei uns ein Mann vom Stande derer, die sich Alchimisten nennen, der brüstete sich, er habe eine Weise gefunden, wie er Gold herstelle. Da das der König jenes Landes hörte, ließ er den Mann zu sich rufen und bat ihn, ihm dieses Geheimnis mitzuteilen. Der Mann beteuerte nun vergeblich, durchaus nichts von einer solchen Kunst zu wissen. „So sperre ich dich als einen Lügner und Betrüger ein“, sagte der König, „Denn entweder bist du ein solcher, weil du vor anderen behauptetest, Gold machen zu können, wiewohl du es nicht kannst, oder du bist es, da du vor mir beteuerst, es nicht zu können, wiewohl du jene Kunst in Wirklichkeit beherrscht. Sage nur an, was du benötigst, um Gold zu machen. Du sollst es in deinem Kerker bekommen. Sobald du fertig bist, magst du es ansagen – und wenn du uns sagst, wie du es ins Werk gesetzt hast, sollst du die Freiheit erhalten.“ Der arme Mann hatte nun viel Zeit, etwas zu probieren. Eines Tages meldete er dem Kerkermeister: „Ich habe etwas entdeckt.“ „Und was wäre das?“, fragte dieser. „Ich habe entdeckt, nach welcher geheimen Kunst die Chinesen das Porzellan erzeugen, welches sie an unseren königlichen Hof für viel Gold verkaufen.“ Der Kerkermeister ließ dies dem König berichten, und der rief den Gefangenen vor sich. Als der Gefangene seine Entdeckung berichtet hatte, erklärte der König: „Gold hast du nicht erfunden, aber etwas, was mehr ist, als das. Ab dem heutigen Tag sollst du frei sein.“ Damit entließ er ihn aus seinem Kerker, kleidete ihn wie einen Edelmann und beschenkte ihn mit königlichen Gaben.

Aus: Stefan Hammel, Der Grashalm in der Wüste, S. 49.

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