Der Geschichtenerzähler (IX)

Nun also die neunte und zweitletzte Folge…

„Sollten wir denn ein Boden sein für diese Saat?“, so fragten ihn die Leute. „Die Saat, wenn sie aufgegangen ist, gleicht der Pflanze, die sie hervorgebracht hat. Wie können wir deinem Meister je gleichen?“ protestierten sie. „Er hat uns viel zu früh verlassen. Wir müssten noch so vieles hören.“ „Hören allein ist wie Sonne ohne Regen“, sagte der Schüler. „Soll das denn heißen, wir sollten jetzt schon in die Nachfolge des Meisters treten?“ rief ihm nun einige zu. „Wir sind ja überhaupt noch nicht so weit. Wir sind noch gar nicht fertig! Wir haben ja erst angefangen.“ Der Schüler erwiderte:

„Fertig!“, rief das Ei, als es gelegt war. „Jetzt bin ich fertig!“ rief die Kaulquappe, als sie geschlüpft war. „Jetzt bin ich ganz fertig!“ rief das Geschöpf, als es zwei Beine hatte. „Jetzt endlich bin ich ganz und gar fertig!“ rief das Wesen, als es vier Beine und einen langen Schwanz hatte. „Wer weiß, was nun noch kommen mag…“, sagte der Frosch, als er fertig war.

„Bedenkt, wie euer Meister angefangen hat…“

Und morgen geht’s weiter.

Der Geschichtenerzähler (VIII)

Es kommt noch was…

Da standen sie vor ihm, die Leute des Volkes. Zu Hunderten waren sie gekommen. Und er stand vor ihnen. Was sollte er sagen? „Der Meister, dessen Worte ihr vernehmen wollt, ist tot“, sprach er. „In dieser Nacht ist er gestorben. Doch hat er mir zuvor noch aufgetragen, ich solle heute zu euch sprechen.“ „Aber weißt du denn auch“, fragten die Leute ihn noch einmal, „was der Meister uns gerne sagen wollte?“ „Ich höre es“, sagte er, und begann zu erzählen:

Auf einer kleinen Insel mitten im weiten Ozean wuchs eine wunderschöne goldgelbe Blume. Niemand wusste, wie sie dort hingekommen war, denn es gab sonst keine Blumen auf dieser Insel. Die Möwen kamen angeflogen, um dieses Wunder zu bestaunen. „Sie ist schön wie die Sonne“, sagten sie. Die Fische kamen angeschwommen. Sie schauten aus dem Wasser, um sie zu bewundern. „Sie ist schön wie eine Koralle“, sagten sie. Ein Krebs kam an Land, um sie zu betrachten. „Sie ist schön wie eine Perle am Meeresgrund“, sagte er. Und sie kamen fast jeden Tag, um diese Blume zu bewundern.
Eines Tages, als sie wieder kamen, um nach der Blume zu schauen, fanden sie die goldenen Blätter der Blume braun und vertrocknet. „O weh“, sprachen die Möwen, die Fische und der Krebs. „Die Sonne hat unsere Blume versengt. Wer soll jetzt unser Herz erfrischen?“ Und alle waren traurig.
Doch einige Tage später war da an der Stelle der Blüte eine wunderbare zartweiße Kugel. „Was ist das?“, fragten die Tiere. „Es ist so weich wie eine Wolke“, sagten die Möwen. „Es ist so leicht wie die Gischt“, sagten die Fische. „Es ist so fein wie der Schimmer der Sonne im Sand“, sagte der Krebs. Und alle Tiere freuten sich.
Da fegte ein Windstoß über die Insel und wehte dieses weiße Wunder in tausend kleinen Flocken fort über die Insel. „O weh“, sprachen die Möwen, die Fische und der Krebs. „Der Wind hat unsere Kugel verweht. Was soll jetzt unser Gemüt erfreuen?“ Und alle waren traurig.
Eines Morgens, als die Sonne über dem Meer aufging, leuchteten da im goldenen Morgenlicht hunderte und nochmals hunderte von wunderschönen goldgelben Blumen. Da tanzten die Möwen am Himmel und die Fische im Wasser, und der Krebs tanzte mit seinen Freunden einen Reigen zwischen den Blumen, und alle freuten sich.

„Ihr müsst wissen“, sagte der Schüler zum Volk, „dass jeder Mensch, der auf der Erde wandelt, auf ihr seine Spuren hinterlässt. Keine Blume verblüht, ohne zuvor ihre Saat zu verstreuen.“

Und morgen geht’s weiter.

Der Geschichtenerzähler (VII)

Und heute die siebte Folge…

Auf dem Heimweg wirkte der Meister müder als sonst. Er sagte zu seinem Schüler: „Für morgen erwarte ich vor meinem Haus sehr viele Leute, die gerne eine Geschichte von mir hören möchten. Ich kann ihnen diese Geschichte jedoch unmöglich erzählen. Sprich du für mich.“ Der Schüler sagte es seinem Meister zu.
Als der Schüler am anderen Morgen aufgestanden war Weiterlesen

Ein Beitrag zur Verkehrssicherheit

Ein Beitrag zur Verkehrssicherheit

Gestern bin ich mit zwei Freundinnen bei Kaffee und Kuchen zusammen gesessen. Eine der beiden hat erzählt:

Vor ein paar Tagen habe ich meinen Bruder mit dem Auto abgeholt. Auf dem Hinweg ist mir ein Entenpaar über die Straße gewatschelt. Und ich hab beim Weiterfahren gedacht: Hoffentlich passiert denen nichts. Auf dem Rückweg habe ich geguckt, ob ich sie wieder sehe. Da waren sie: Sie sind den Bürgersteig entlanggewatschelt. Dann kam der Zebrastreifen. Genau am Zebrastreifen haben sie die Straße überquert. Ich habe angehalten und sie die Straße überqueren lassen. Auf der Gegenseite kam ein Auto. Weiterlesen

Der Geschichtenerzähler (VI)

Und Folge sechs…

Der Geschichtenerzähler sagte:

„Es lebte in unserer Stadt ein bekannter Mann, der sollte einst vor vielen Menschen und gar vor dem König eine Rede halten. Nun sah er sich in der Runde um und fand dort eine solche Übermacht an klugen und gelehrten Menschen, dass er sich gar nicht mehr klug zu sein dünkte und vergaß, wie er sich sonst selbst zu helfen wusste und sich am liebsten in den Erdboden verkrochen hätte. Doch das war nicht möglich. Was tat dieser Mann?“

Mit diesen Worten verstummte der Alte. Verzweifelt fragend Weiterlesen

Der Geschichtenerzähler (V)

Und Folge fünf…

Eines Morgens sagte der alte Geschichtenerzähler zu seinem Schüler: „Wie du gehört hast, wird heute der König in unserer Stadt zu Gast sein. Ich habe einen Brief erhalten, dass er von meiner Kunst erfahren habe und nun auch selbst eine Probe derselben hören will. Der König ist in großer Sorge, denn der Herrscher eines Nachbarlandes fordert von ihm eine persönliche Entschuldigung für ein paar Grobheiten, die er in Wahrheit nie begangen hat. Unser König kann diese Entschuldigung nicht aussprechen, ohne sich vor unserem Volk und allen Nachbarvölkern zu entblößen. Wird er sich aber nicht entschuldigen, so droht jener andere Herrscher mit seiner starken Armee unser Land zu verheeren. Was soll unser König nun tun? Weiterlesen

Der Geschichtenerzähler (IV)

Weiter geht’s mit Folge vier…

Von da an erzählte ihm sein Lehrmeister täglich solche halbe oder dreiviertel Geschichten. Einmal erzählte er nur den Anfang, ein andermal bloß den Schluss. Manchmal erzählte er nur ein Stück aus der Mitte der Geschichte und einmal gar verfiel er nach zwei einleitenden Sätzen in ein langes Schweigen und sagte schließlich nur: „Am Ende musste die Königstochter selbst den Drachen töten.“
Hatte sich der Junge allmählich mit diesen Merkwürdigkeiten abgefunden, so störte ihn jetzt, Weiterlesen

Der Geschichtenerzähler (III)

Weiter geht’s mit Folge drei…

„In einem Land in deinem Herzen lebte einst ein Volk, das so glücklich oder unglücklich war wie viele Völker und so reich oder arm wie viele, und so satt oder sehnsüchtig wie viele. In diesem Volk aber gab es einen Jungen, der einen Traum hatte, wie ihn viele Jungen haben: Er wollte sich auf die Suche machen nach einem verborgenen Schatz. Nun wäre das an sich nichts Besonderes. Doch hatte dieser Junge das Glück – oder war das etwa keines? – nicht nur einen Traum von einem Schatz zu haben. Sondern er hatte tatsächlich in einem Versteck im Garten Weiterlesen

Der Geschichtenerzähler (II)

Und weiter geht’s mit der zweiten Folge…

„Zuerst musst du lernen, den Geschichten Ehrfurcht entgegenzubringen“, sagte der Alte einmal. „Nur wer auch erzittern kann vor der Kraft einer Geschichte, dem wird sie ihre Wirkung entfalten. Du musst die Sehnsucht in dir finden nach dem lösenden Wort, nach dem Wort, das befreit, das Türen öffnet und Menschen auf eine Reise schickt. Und du musst schweigen lernen. In dem Augenblick, wenn deine Geschichte die größte Kraft hat, bewegt sie auch den Hörer und dich mit der größten Geschwindigkeit. Dann muss sie enden, damit ihr mit Wucht aus ihr herausgeschleudert werdet Weiterlesen