Dringend

Vor anderthalb Wochen rief mich ein Mann an und sprach mir auf Band, ich möge ihn bitte zurückrufen. Es sei dringend. Es sei wichtig. Ich solle ihn anrufen, ganz dringend. Er wolle ein Problem mit mir besprechen, es sei sehr wichtig.

Ich versuchte ihn zurückzurufen, erreichte ihn aber nicht. „Die Leute, die sich so ankündigen, sind meistens die, die dann beim ersten Termin einfach nicht zur Therapie erscheinen“, sagte ich zu meiner Freundin. „Bei ihnen ist alles dringend, und gerade deswegen ist nichts wichtig, weil – es kann immer etwas anderes Dringendes dazwischenkommen.“ Ich habe dann vergessen, es wieder zu probieren, ihn anzurufen.

Heute früh habe ich dort angerufen. Mein Anrufbeantworter war voll, also wollte ich die nicht mehr benötigten Mitteilungen löschen und habe dabei den Spruch auf Band wieder gefunden. Die Freundin des Mannes war am Telefon. „Er ist tot“, hat sie gesagt. „Vor zwei Tagen hat er sich das Leben genommen.“

9 Gedanken zu „Dringend

  1. die hilfe, die wir für uns in anspruch nehmen möchten, müssen wir uns erarbeiten. es reicht nicht eimal leise zu rufen, wenn wir uns im wald verirrt haben. wir müssen immer und immer wieder rufen und weiter nach dem weg suchen. denn nur dann sind wir bereit, hilfe wirklich an zu nehmen und umzusetzen.

  2. ich frage mich nur, was kann man machen, wenn ein anderer nach hilfe ruft -immer und immer wieder- und man sucht und findet ihn halb versunken im moor und man will ihm helfen, streckt die hand nach ihm aus, er ergreift sie, doch immer wieder gleitet seine hand aus der des helfenden, bis er schließlich im moor versinkt, endgültig unrettbar verloren…

  3. und kann es nicht auch geschehen, dass der rettende mit ins moor hineingezogen wird, bzw. hinterher springt, da er den sinkenden nicht verlieren will?

  4. Mancher ruft und lässt sich nicht helfen. Das liegt vielleicht daran, dass er nicht an Hilfe glaubt oder daran, dass er unter Hilfe Möglichkeiten versteht, die es nicht gibt (die Vergangenheit ändern, die anderen sollen sich ändern) oder dass er unter Hilfe Dinge versteht, die im Ergebnis das Problem aufrechterhalten. Oder es liegt daran, dass ein Teil des Problems ihm vordergründig Linderung verschafft, wie zum Beispiel, Schuld bei sich oder anderen zu beklagen, oder an ungünstigen Glaubenssätzen: Man müsse erst „das Problem bearbeiten“ oder „die Vergangenheit aufarbeiten“, bevor es einem besser gehen könne – und dabei wühlt man sich leicht tiefer ins Moor.
    Ich glaube, Partner und Angehörige können nur manchmal helfen – vielleicht am ehesten, indem sie helfen, professionelle Hilfe zu organisieren, oder, indem sie für sich selbst Beratung suchen.
    An irgendeinem Punkt wird es wichtig, das eigene Schicksal von dem des anderen zu trennen.
    Ich stimme zu, wer den Sinkenden zu lange nicht verlieren will und ihn versucht, zu halten, verliert sich selbst und verliert ihn trotzdem. Nicht nur bei Therapeuten, auch innerhalb der Familie darf der Selbstschutz Vorrang vor dem Schutz der anderen haben. Wer selbst sinkt, kann andere nicht vor dem Sinken retten. Er muss eine Entscheidung für sich selber treffen, vielleicht zum ersten mal seit sehr langer Zeit.

  5. Ich denke, es gibt Menschen, denen ich, zum Zeitpunkt, zu dem ich ihnen begegne, nicht helfen kann. Zumindest fällt mir keine wirksame Möglichkeit ein, so dass mir die Ideen, Informationen, Erfahrungen fehlen, die ich dazu bräuchte.
    Vielleicht kann es ein anderer, und vielleicht geht es zu einer anderen Zeit.
    Hier gilt deine Geschichte vom Helfer im Moor: Wenn man jemanden nicht rausgezogen kriegt, ist mehr-helfen, bis man reingezogen wird, keine Lösung.
    Eher auswärtige Hilfe organisieren. Wenn der, der Hilfe benötigt, nicht kräftig mithilft, wird’s schwierig.
    Aber manchmal können Leute, die mehr Abstand haben, kühner helfen, als Nahestehende.
    Ich setze dazu gerade mal einen Blog rein.

  6. heinrich heine:
    der schlaf ist gut, der tod ist besser.
    freilich das beste wäre: niemals geboren sein!

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