Gedachte Präparate

„Manchmal kommt es vor“, erzählte ein Arzt, „dass ich einem Patienten ein Medikament, das er braucht, nicht geben kann, weil es zu teuer ist oder zu schwer zu beschaffen.  Wie, bitte, kommt man an ein homöopathisches Präparat aus Löwenmilch? In solchen Fällen lasse ich manchmal den Patienten den Namen des Mittels auf einen Zettel schreiben und verschreibe ihm, den Zettel einmal gründlich zu betrachten.  Natürlich kann ich einen solchen Vorschlag nur Patienten machen, die für etwas so „Verrücktes“ aufgeschlossen sind. Das Seltsame ist: Bei denen, die den Rat befolgen, bewirkt oft der Zettel dasselbe wie das Medikament.“

Eine Krankenschwester, die den Arzt reden hörte, lachte darüber. Sie hatte jahrelang auf einer Intensivstation gearbeitet und manchem Patienten in einer kritischen Situation durch die schnelle Gabe eines Medikamentes das Leben gerettet.  Wie wäre es wohl gewesen, ihnen einen Zettel auszuhändigen mit dem Namen ihrer Medizin?

Es geschah einige Tage nach diesem Gespräch: Am Morgen erwachte sie mit Kopfschmerzen. Sie wusste, es war nichts Ernsthaftes, nur dieser längst vertraute Schmerz, der nichts als sich selbst bedeutete. Sie wusste auch, sie hatte keine Kopfschmerztabletten im Haus. Nun stellte sie in Gedanken ein Glas Wasser neben das Bett. Sie malte sich aus, wie sie die Tablette hineinwarf und diese sich sprudelnd auflöste.  Sie stellte sich vor, wie sie das Glas in langsamen Schlücken leerte, wie das Wasser von ihrem Körper aufgenommen würde und wie das Medikament begann, seine Wirkung zu entfalten. Für ein paar Minuten schlief sie ein, dann erwachte sie wieder, stand auf und fuhr zur Arbeit. Alles verlief wie gewohnt. Als sie spät abends auf ihren Tag zurückschaute, fiel ihr auf, dass diese Schmerzen in den Minuten nach der gedachten Einnahme des Medikaments verschwunden waren und sie sie vollständig vergessen hatte.

Diese Begebenheiten haben sich in meinem Freundeskreis abgespielt. Es sei jedem überlassen, sich seinen eigenen Reim darauf zu machen.

3 Gedanken zu „Gedachte Präparate

  1. Die oben erzählte Begebenheit ist nicht ungewöhnlich, sondern tritt sehr häufig und auch in anderen Formen auf.
    Ich habe solche und ähnliche Begebenheiten häufig in meinem Berufsleben erlebt.
    Als kleine Übung kann man ein Spiel machen.
    Man nehme ein Glas Leitungswasser. Dann stelle man sich z.B. eine wunderschöne gelbe Zitrone vor. Wie sie aussieht, riecht, sich anfühlt. Dann geht man ganz tief in diese Vorstellung hinein. Wenn man nun diese Zitrone ganz klar fühlt, riecht und sieht, stelle man sich ein Messer vor, mit dem man die Zitrone durchschneidet, wie ihr Saft hervortritt in kleinen Tropfen, wie sich der Geruch entfaltet. Dann stelle man sich vor, wie man die Zitronenhälften nun über dem Glas zusammen- und ausdrückt.
    Wie der Saft ins Glas tropft und wie er sich mit dem Wasser mischt. Wenn man es gut gemacht hat , kann man nun aus dem Glas trinken und wird den Geschmack einer Zitrone wahrnehmen.
    Hier noch ein paar andere Formen des Placebo-Effektes.
    So geschieht es z.B., dass jemand ein Medikament A einnimmt in der festen Überzeugung, es sei Medikament B. Die Medikamente sind sehr verschieden. Trotzdem kann das Medikament A die Wirkung von B erzeugen ohne, gleichzeitig die Wirkung von A zu entwickeln.
    Es ist nachgewiesen, dass, wenn man jemand in der westlichen Welt eine gefüllte Spritze mit Nadel zeigt, im Körper dieser Person vielfältige Reaktonen ablaufen. Jedoch kann man das Phänomen nicht bei einer Person erzeugen, die nicht weiß, was eine Spritze ist und noch nie eine bekommen hat.
    Es hat sich auch gezeigt, das man durch Scheinoperationen gleiche oder bessere Operationsergebnisse erzielen konnte als durch die übliche Operation. (z.B. bei bestimmten Knieoperationen)
    Von älteren Kollegen weiß ich, das im Krieg oder Notsituationen, wenn es keine Medikamente mehr gab, man aus der Not heraus die Illusion eines Medikamentes erzeugte. Die Wirkung war meistens sehr gut.

    Wichtig ist aber immer, dass man in sich die Vorstellung trägt, was passiert und wie. Ein Glaube, oder sogar eine (tiefe) Überzeugung, dass eine heilende Wirkung eintritt.
    Der Glaube versetzt bekanntlich Berge .

  2. Tolle Geschichte, werde sie in vielen Variationen weitererzählen!
    Danke.
    Der Grad zwischen den Wirklichkeiten – geschluckte Medizin oder gedachte Medizin – scheint mir eh sehr schmal. Wer kann denn genau sagen, wo etwas anfängt oder aufhört zu wirken. In der Seelsorge begegne ich vielen Senioren, deren Wahrnehmung mehr und mehr übers „Spüren“ erfolgt, weniger über kognitive Fähigkeiten. Was für ein Geschenk, wenn es gelingt, jemanden die Freuden des Tanzens im Jugendalter erleben zu lassen, und so die quälenden Schmerzen in den Gelenken regelrecht abzuschalten! Oft hält die Wirkung länger an, als mein Besuch.
    Gott sei Dank 🙂

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