Gespenster verjagen

Eine Kollegin hat mir vor ein paar Tagen eine E-mail geschrieben. „Was liest du da?“, hatte eben ihre achtjährige Tochter gefragt. Die Kollegin las ihr daraufhin aus dem Buch „Der Grashalm in der Wüste“ die Geschichte „Gespenster verjagen“ vor. Nach der Geschichte setzte sich die Tochter aufrecht hin, schaute ihre Mutter mit ernsten und großen Augen an und sagte: „Siehst du, es gibt doch Gespenster. Er weiß es.“ Legte sich wieder hin und schlief zufrieden ein.

Die Geschichte „Gespenster verjagen“ ist entstanden wegen eines anderen Kindes. Sie heißt Lisa. Ehrlich gesagt war mir in ihrem Haus auch ziemlich gruselig zumute; einmal habe ich dort Stimmen gehört, als gar niemand da war. Was ist hier Realität und was Fantasie? Wahrscheinlich sind die Übergänge zwischen Realität und Fantasie in unserem Leben viel ungenauer, als wir es wahr haben wollen. Die Grenzen sind fließend: Unsere Fantasien sind oder werden Realität, und unsere Realitäten bestehen aus Fantasie. Und das nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei uns Großen. Als ich von Lisas Ängsten im Dunkeln gehört habe, habe ich ihr also die Geschichte „Gespenster verjagen“ erzählt:

Du hast also Ärger mit den Gespenstern bei euch zuhause? In deinem Zimmer sind sie, hinterm Schrank? Und unter der Kellertreppe auch? Hör zu! Ich bin ihnen auch schon begegnet und habe dabei einige Erfahrungen mit ihnen gesammelt. Wahrscheinlich sind es nicht genau dieselben Geister, die du bei dir getroffen hast, aber sicher waren es ähnlich miese Gestalten, wie die, die sich bei dir herumtreiben. Als Kind bin ich ihnen oft begegnet und auch heute noch ab und zu, und als ich klein war, hatte ich schreckliche Angst vor ihnen. Dann habe ich etwas über sie herausgefunden: In Wahrheit können sie nämlich gar nicht viel, sie tun nur immer so. Ihr einziges Ziel ist, einem Angst zu machen. Wenn sie das erreichen, macht es ihnen Spaß. Wenn sie es nicht schaffen, dann langweilen sie sich. Und wenn sie sich zu lange langweilen, dann gehen sie fort. Du kannst sie auch ärgern, die Gespenster. Du sagst zum Beispiel: ‚Guten Morgen, lieber Geist! Wie geht es dir heute? Hast du gut geschlafen? Kommst du mit etwas frühstücken?’ Dann ärgert sich das Gespenst fast zu Tode. Vielleicht versucht es dann, dir noch mehr Angst zu machen. Aber wenn du so weiter machst, verlieren sie den Spaß an dir und suchen sich bald etwas anderes.

Ich habe noch hinzugefügt: „Du kennst doch Martin Luther. Das ist der Mann, der die Bibel ins Deutsche übersetzt hat – er muss sehr klug gewesen sein! Und er war sehr berühmt! Aber er hatte ein Problem. Er hatte nämlich große Angst vor Gespenstern, sogar als Erwachsener. Damals hat man die Gespenster noch Teufel genannt, aber das war dasselbe. Dieser Martin Luther hat einmal eine Methode gegen die Teufel gefunden, und danach hatte er keine Angst mehr vor ihnen. Er sagte: ‚Wenn so ein Teufel zu mir kommt, dann drehe ich mich um und furze ihm ins Gesicht!’ Das hat er tatsächlich gemacht, und es hat funktioniert! Die Teufel haben sich nämlich geärgert, dass er sie gar nicht mehr ernst genommen hat und anscheinend gar keine Angst vor ihnen hatte. Sie haben noch ein paar Mal versucht, ihn zu ärgern, und dann sind sie weg geblieben.“

Lisa hat begeistert zugehört. Sie hat dann ein paar Wochen mit den Geistern geredet, hat sie begrüßt, geneckt und verspottet und hat danach, soweit ich weiß, nie mehr mit ihnen geredet. Die Geister sind aus ihrem Leben verschwunden.

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