Das rollende Klavier

Meine Schwester hat mir was erzählt. Über einen Mann, den sie kennt.

Seit vielen Jahren arbeitete er als Pianist. Unzählige Auftritte hatte er erlebt. Und meine Schwester hat ihn gefragt, was denn das unangenehmste Erlebnis auf seinen Konzertreisen gewesen sei? „Einmal“, so erzählte er, „habe ich während eines Konzertes bemerkt, dass das Klavier, auf dem ich spielte, nicht richtig befestigt war. Vielleicht war auch der Boden des Konzertsaals nicht eben. Während ich spielte, begann nun das Instrument, allmählich von mir fortzurollen. Ich rutschte mit meinem Klavierstuhl hinterher, doch es rollte weiter. Ich rutschte, es rollte. Und so ging es immer weiter, während des ganzen Stücks. – Die meisten Instrumente haben eine Bremse, und die muss festgestellt werden. Wenn nicht, dann gnade dir Gott.“

(Hammel, Der Grashalm in der Wüste, S. 65)

6 Gedanken zu „Das rollende Klavier

  1. Variante, selbst durchlitten: Als Aushilfe-Organistin Begleitung des sonntäglichen Gottesdienstes in einer benachbarten Gemeinde, im Gemeindehaus auf einem alten Keyboard. Die Tonqualität schmerzte, noch schlimmer aber: Der Keyboard-Ständer wackelte „wie ein Kuhschwanz“. So, dass unter Missachtung des Taktes immer dann die Tasten getroffen werden mussten, wenn die passenden gerade unter den Fingern vorbei glitten. Eine Bremse hatte das alte Keyboard nicht. Ja, tatsächlich: Gnade dir Gott.
    Für derartige „Auftritte“ werde ich in Zukunft jedoch gerüstet sein: Eigenes Keyboard, solider Ständer. Zusätzlicher Bonus: Das „Warmspielen“ entfällt auf dem gewohnten Instrument, Ankunft 10 Minuten vor Gottesdienstbeginn genügt.

  2. Liebe Doris,
    Das ist sehr anschaulich. In Gedanken sehe ich die Tastatur in Eigenresonanz schwingen wie eine Zitterspinne, die in ihrem Winkel unter der Zimmerdecke gestört wurde und in elliptischem Orbit den rechnerischen Mittelpunkt ihres Netzes umrast.
    Und über den Tasten die armen verwirrten Finger, die mit leichter Verzögerung mitorbitieren…

  3. ja, so ähnlich hab ichs erzählt.
    Jetzt in diesem Zusammenhang wiedergefunden lässt mich die Geschichte ratlos. Die Vorangegangenen bringen gleich eine Lösung mit oder zumindest eine Ahnung von einer. Diese halt nicht. Therapeutische Einsatzmöglichkeiten? Erklärst du wahrscheinlich im „Grashalm“. Ich werd wohl mal nachschlagen.

  4. Liebe Birgit,
    ich erzähle die Geschichte am liebsten in der Paarberatung: Zum Beispiel einem Mann, der versucht, eine Frau zu bekommen, die ihn immer nur beinahe will und ihn sich anstrengen lässt, aber doch nicht nimmt. Oder einer Frau, deren Mann nie ganz zufrieden ist, egal, was sie tut. Wird sie besser, rollt er mit seinen Idealvorstellungen weiter weg, so dass sie noch besser werden muss und er wiederum weiter wegrollt und noch mehr von ihr fordert.
    Ähnliches gilt für manche Chefs, die so tun, als könne man sie zufrieden stellen, indem man mehr oder besser arbeite, nach einer entsprechenden Steigerung aber trotzdem kein Lob sondern nur noch differenziertere oder einfach andere Kritik aussprechen.
    Vielleicht gilt es auch für manche Partner bei Preisverhandlungen. Gibt man ihnen nach, weil man auf eine Lösung in der Mitte setzt, dann kommen sie nicht entgegen, sondern fordern mehr.
    Es könnte auch sein, dass jemand ein Versäumnis eingesteht, und sein Partner nutzt das Eingeständnis einer Schuld, um dem Bekennenden noch mehr Vorwürfe zu machen; wenn er sich daraufhin noch geständiger zeigt, werden sie ihre Beschuldigungen intensivieren.
    Ich denke, dass bei solchen Dynamiken „Mehr desselben“ zu tun in Richtung Katastrophe führt. Besser ist: Bremsen, nachdenken, das Gegenteil des Bisherigen oder etwas ganz Neues tun!

  5. Interessant – so kann man die Geschichte natürlich auch interpretieren. Ich hätte sie ohne die erläuternden Worte oben etwas trivialer verstanden: Ein ehrgeiziges Projekt verselbständigt sich, und es treten unerwünschte Nebeneffekte ein. Gut beraten ist, wer rechtzeitig eine „Bremse“ (Notausstieg, Alternativlösung, Schutzmaßnahmen) bereithält. In diesem Sinne auch mein Keyboard-Erlebnis. Übertragen: z.B. Überschuldung, Aktienspekulationen.
    Zugegebenermaßen ist meine Interpretation nicht unbedingt im Sinne des Blogs (?). Die Original-Interpretation ist auch etwas eleganter 😉

  6. Ich finde deine Geschichte ausgezeichnet, und sehr im Sinne des Blogs. Alles, was eine Pointe hat – und auch manches Pointelose – ist eine Beratungsgeschichte. Deine Variante würde ich erzählen, wenn Menschen im Ja-aber-Stil kommunizieren. Also, wenn ich sage „Geht’s gut?“, sagen sie „Nein, gar nicht“. Antworte ich „Sie machen gerade viel mit, oder?“ erwidern sie „Na, so schlimm ist es auch wieder nicht“. Folgere ich: „Es geht also doch?“, sagen sie „Na, wie man’s nimmt“. Dieses Nein-doch-anders-Synrom findet man bei vielen künstlerischen und führenden Personen, überhaupt bei Perfektionisten jeder Färbung.
    Ich könnte mir deine schwingende Tastatur zu so einem Gespräch gut vorstellen: Egal, wo du hingreifst, du greifst daneben! Vielleicht verändert es was, wenn man das Gespräch unterbricht, deine Geschichte erzählt, anschließend mit dem Beratenen bespricht, wie man den Ständer justiert, und danach das ursprüngliche Gespräch weiterführt?

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