Das Reihel

Bernhard liebte es, ein ganzes Wochenende lang allein durchs Gebirge zu wandern und in den Schlafsack eingerollt in einer Schutzhütte zu übernachten. Seine Freundin war häuslich und liebte romantische Abende bei Kerzenschein. Sie wollte ihn gerne heiraten. Ihm machte es Angst, sich endgültig festzulegen. Sie wollte möglichst bald Kinder bekommen. Ihn überforderte schon der Gedanke daran. Aber trennen wollten sich beide auf keinen Fall. „Wir sind in der Sackgasse“, stellte er in einem Telefongespräch resigniert fest. Ich wollte das weder so stehen lassen, noch konnte ich hoffen, dass mein bloßes Widersprechen ihm weiterhelfen würde. Was tun?

„Hier in einem Nachbardorf gibt es auch eine Sackgasse“, begann ich und erzählte ihm die Geschichte vom Reihel. Zu meiner Überraschung widersprach er nicht, sondern bedankte sich und beendete das Telefongespräch. Später verwies er darauf, dass ihm die Geschichte den Mut zurückgegeben habe, an unerwartete Auswege zu glauben und sie zu suchen.

Die Partnerschaft stabilisierte sich „Wir haben uns wieder vereinigt“, erklärte er grinsend nach der Hochzeit ein gutes Jahr später. „Nämlich: Ich bin die Bundesrepublik und sie ist die DDR.“ „Was damals zwischen den deutschen Staaten passiert ist, war ja eher eine Angliederung als eine Vereinigung“, gab ich zu bedenken. „Man hätte damals auch eine gemeinsame Verfassung aushandeln können, die beide Partner gleich berücksichtigt. Schreibt doch einmal seine eigene Ehe-Verfassung – aber erst jeder allein! Und handelt anschließend auf dieser Grundlage schriftlich eine gemeinsame Verfassung aus.“ Sie taten das. Sie wurden sich einig, dass er seine Wanderungen und andere eigene Unternehmungen beibehalten konnte. In anderen Bereichen ging er auf ihre häuslichen und romantischen Wünsche ein. Auch für die Nachwuchs-Frage trafen sie Regelungen. Einige Jahre später bekamen sie – beiderseits geplant – ein Kind.

Hier ist die Geschichte vom Reihel:

Ich kannte einen, der hat mir diese Geschichte erzählt. Zu ihm kam jemand, als er – wie du – nicht mehr weiter wusste. „Ich kann nichts mehr tun“, sagte er. „Ich stecke in der Sackgasse.“ Da fiel ihm etwas ein – dem, der mir das erzählt hat – und er erwiderte: „In meiner Gegend gibt es zwischen den Häusern manchmal solche ganz kleinen Gassen von einer Straße zur anderen. Sie heißen ‚Reihel’. Man kann nur zu Fuß durch, sie sind kaum breiter als ein Mensch. Da, wo ich wohne, kenne ich so eine Sackgasse. Wenn man hinein fährt, geht es nicht weiter, wie das bei Sackgassen eben so ist. Aber bei dieser Sackgasse ist etwas anders, und ich glaube, es gibt davon mehrere: Wenn man ganz bis ans Ende geht, dann findet man irgendwo an der Seite ganz unscheinbar zwischen den Häusern das Reihel.“

Ein Gedanke zu „Das Reihel

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