Dringend

Quelle: Pixabay (https://pixabay.com/de/photos/telefon-anrufbeantworter-play-499776/)

Einmal hatte ich einen Spruch auf meinem Anrufbeantworter: Ein Mann erklärte, dass er ein Problem bearbeiten wolle und einen Therapietermin benötige: “Bitte rufen Sie mich zurück. Es ist dringend. Ich freue mich, wenn Sie mich anrufen. Es ist dringend, danke!”    

Ich wählte die genannte Nummer, aber niemand ging ans Telefon. So hinterließ ich dort wiederum eine Nachricht und wandte mich anderen Arbeiten zu. “Die Leute, die so betonen, wie dringend es ist, kommen dann eher nicht zur vereinbarten Stunde. Bei ihnen ist alles dringend”, sagte ich zu meiner Frau. Eine Woche später – der Mann hatte nicht zurückgerufen – rief ich nochmals dort an. Eine Frau hob ab.  “Vielen Dank, das hat sich erledigt”, sagte sie. “Das war mein Freund, der bei Ihnen angerufen hat. Vor drei Tagen hat er sich umgebracht.   

Nachdem ich diese Nachricht erhalten hatte, war ich verstört und litt unter einem schlechten Gewissen. Ich brauchte Tage, um zu rekonstruieren, wie es zu der Situation gekommen war. Schließlich wurde mir klar, dass mir nie einen Satz wie „Es ist dringend!“ als Hinweis auf Suizidalität begegnet war, sondern allenfalls als Hinweis darauf, dass ein Mensch sich einen Vorteil gegenüber anderen Wartenden verschaffen wollte. Mir fehlte die scheinbar naheliegende Information, dass dieser Satz mich in eine Verantwortungsposition bringen könnte, die ich nicht mit einem Spruch auf den Anrufbeantworter an den Klienten zurückdelegieren kann. Nachdem ich verstand, dass ich nicht aus einer Gleichgültigkeit gehandelt hatte, die den Tod anderer billigend in Kauf nimmt, sondern aus einer falschen Priorisierung aus einem Mangel an Information heraus, kam mein Inneres zur Ruhe – nicht ohne mich zu vergewissern, dass ich für ein mögliches nächstes Mal gelernt hatte, was aus der Situation gelernt werden kann. 

Die Geschichte erzähle ich (mit einigen Worten der Erläuterung ähnlich dem eben Gesagten) Menschen mit Schuldgefühlen, um sie zu ermutigen, ihre Intentionen zur Zeit des bei sich selbst beklagten Verhaltens zu erforschen und sich von der Selbstverurteilung hinüber zu einer Auswertung des Erlebten hin zu bewegen. 

Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch Wie das Nashorn Freiheit fand. 120 Geschichten zu Krise und Entwicklung.“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel “ II Die Gruppe: Krisenbewältigung und gemeinsame Entwicklung in Partnerschaft und Familie, Schule, Beruf und Freizeit “.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert