Entenküken

Quelle: Pixabay

Wenn man einer Henne ein Entenei unterlegt, brütet sie es zusammen mit den eigenen Eiern aus, und wenn die Küken geschlüpft und ein paar Tage alt sind, dann geht sie mit ihnen spazieren. Sie picken hier ein paar Körner auf und dort einen Käfer und lassen es sich gutgehen. Wenn sie an den Bach kommen, bleibt die Glucke mit ihren Jungen stehen. Das Entenküken stürzt sich ins kühle Nass. Die kleine Ente ist begeistert, die Glucke gackert und flattert in hellem Entsetzen. Die anderen Küken wackeln umher und wissen nicht so recht, was sie von der Situation halten sollen.

Eine Glucke, die hat Lebenserfahrung und hält nichts davon, wenn eines ihrer Küken ins Wasser geht. Eine Ente vertraut dem Wasser und weiß, dass es sie trägt. Hab Verständnis, liebe Ente, wenn die Glucke sich um dich fürchtet. Sie will dich beschützen. Hab auch Verständnis, liebe Ente, dass du eine Ente bist und baden willst. Wenn du ein Huhn wärst, dann solltest du nicht schwimmen gehen. Weil du eine Ente bist, folgst du deiner Natur.

Die Geschichte verwende ich, um Menschen zu ermutigen, ihren eigenen Weg abseits der Vorgaben ihrer Herkunftsfamilie zu gehen und um Eltern einzuladen, ihren Kindern eigene, in der Familie noch nie gegangene Wege offenzulassen. Dazu kann es auch gehören, Verbote zu übertreten, die – mindestens gefühlt – mit dem Ausschluss aus der Familiengemeinschaft belegt waren. Solche Verbote können sich auf Überzeugungen zur eigenen Identität, auf berufliche Wege oder die Partnerwahl beziehen. Manchmal lade ich Menschen ein, in Gedanken zu ihren Eltern zu sagen: “Ich nehme beides: Ich gehöre zu euch, und ich mache es anders”, oder auch: “Ich gehöre auf meine Art zu euch und mache es anders, als ihr es gemacht habt, als ihr wolltet, dass ich es mache und als ihr dachtet, dass man es überhaupt machen kann.” Die Geschichte kann auch im Gespräch mit Pflege- und Adoptivkindern und deren Eltern verwendet werden.

Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Trauma“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Aussöhnung, Güte, Selbstversöhnung“.

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