Nimm meine Stimme mit

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Hör meine Stimme, und wenn es passiert, dass du in Alptraumwelten abtauchst, in grausamen Erinnerungsfilmen, die wie echt, wie jetzt, erscheinen, nimm meine Stimme mit. Versuche nicht, im Jetzt zu bleiben, sondern halte dich an meiner Stimme fest. Nimm meine Stimme mit in die Zeit, als der Peiniger dich gequält hat, nimm die Wärme und den Klang, nimm die Melodie meiner Stimme mit in die Zeit, als du dachtest, du würdest sterben, nimm sie mit, bis der Film zu Ende ist, der Vorhang fällt und du rausgehst, und, draußen vor dem Horrorkino frische Luft schöpfst. Der Film ist vorbei, aber dieses Mal war es anders: Du hast meine Stimme dabeigehabt, und jemand in dir wusste die ganze Zeit: Da passt etwas nicht zusammen. Das ist nicht wirklich wirklich. Die Stimme erinnert dich ans Jetzt. Du kennst meine Stimme gut, dein Gehirn kann sich jederzeit an sie erinnern. Sag deinem Gehirn einen schönen Gruß: Wenn du noch einmal in dem Horrorkino sitzt, wenn ich nicht dabei bin, kann es meine Stimme trotzdem mitnehmen, als Gruß aus dem Jetzt auf der Reise durchs Damals.

Menschen, die schwer traumatisiert wurden, erleben oft heftige Flashbacks, indem sie beispielsweise frühere Misshandlungen so erleben, als geschähen sie jetzt. Das Bemühen von Therapeuten, sie im “Hier und Jetzt” zu halten, erweist sich oft als fruchtlos. Dagegen ist es durchaus möglich und wirkungsvoll, den Klienten üben zu lassen, etwas aus dem “Hier und Jetzt”, wie etwa den Klang der Stimme des Therapeuten, mit in die Alptraumwelt zu nehmen. Der Klient kann dies nicht nur tun, während der Therapeut mit ihm spricht, sondern auch später, indem er seine Erinnerung an die Stimme des Therapeuten in die intensiven Katastrophenerinnerungen mitnimmt. Die so veränderte Dissoziation ist weniger vollständig als zuvor, weil beim Durchleben der schlimmen Erinnerungen immer ein Wissen darum vorhanden ist, dass Es sich um Erinnerungen handelt. Die mitgebrachte Stimme des Therapeuten dient sozusagen als Beweis, dass die traumatische Erinnerung, die so gegenwärtig scheint, nicht die Gegenwart und daher nicht die wirklichste Wirklichkeit sein kann.

Diese Geschichte stammt von Stefan Hammel und ist in dem Buch „Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten bei psychischem Trauma“ zu finden. Die Geschichte gehört zum Kapitel „Traumatische Reaktionen nachkonditionieren„.

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