Ein Mädchen wie Robin Hood

Hier eine Fallgeschichte aus meiner Praxis. Die Namen und ein paar andere Einzelheiten sind, wie üblich, geändert. Mir hat die Arbeit sehr viel Spaß gemacht…

Whei-Ing war dreizehn. Ihre Mutter brachte sie in Therapie, weil sie wiederholt im Kaufhaus gestohlen hatte. Sie erzählten mir, wie die Mutter ein chinesisches Restaurant führte, der Vater ein Geschäft mit asiatischen Lebensmitteln betrieb und die Tochter der Mutter des Öfteren im Restaurant half. Ich fragte Whei-Ing nach ihrem Taschengeld. Sie fand, dass sie genug bekäme, und ihre Mutter erklärte, sie könne mehr haben, wenn sie fragte, doch sie wolle nicht mehr. Während Whei-Ing das Wort „Geld“ verwendete, klang ihre Stimme ein wenig brüchig, so, als ob sie für eine Sekunde heiser wäre. „Woran denkst du, wenn du das Wort „Geld“ hörst?“, unterbrach ich sie. „Nenne mir einige Begriffe“. „Sie nannte ihre Assoziationen. Beim Wort „Trauer“, klang ihre Stimme wieder ein wenig brüchig. „Woran denkst du, wenn du Trauer hörst?“ „An Armut“, antwortete sie, und wieder war ein veränderter Schlag in ihrer Stimme. „Woran denkst du bei Armut?“ „Meine Mutter sagt immer, wir sind arm. Und mein Vater schickt alles Geld, was wir sparen oder ausgeben könnten, zu seiner Mutter und den Geschwistern nach China.“ Und sie weinte.
„Du hast den bestmöglichen Grund, um zu stehlen“, sagte ich zu Whei-Ing. „Du stiehlst aus Liebe, um deine Mutter zu schonen. Trotzdem machst du deine Mutter versehentlich damit unglücklich und schadest dir selbst. Du hast wunderschöne Gründe, um zu stehlen, aber sie funktionieren nicht. Ich möchte, dass du aus Liebe zu deiner Mutter damit aufhörst.“
Zur Mutter sagte ich: „Sie können stolz sein auf soviel Liebe und Zusammenhalt in der Familie. Reden Sie nicht mehr über Armut, und geben Sie bis zum nächsten Treffen mit Ihrer Tochter Geld aus für etwas Schönes“. Sie schien nicht zu verstehen, was ich von ihr wollte und fragte wiederholt nach. „Das wird mir sehr schwer fallen“, antwortete sie dann. Sie wand sich und kicherte. „Ich habe so etwas in meinem Leben noch nie gemacht.“ „Das ist jetzt ihre Aufgabe.“
In den nächsten Wochen erfuhr ich, dass der Vater seiner Frau und Tochter einen Urlaub in Hongkong spendiert habe. „Veranstalten Sie jede Woche ein Klein-Hongkong“, verlangte ich. Bald erzählten sie mir, dass sie gemeinsam einkaufen gingen, und ins Kino gegangen waren. Mehr der Form halber hatten sie den Vater gefragt, ob er mitkäme. Er ging mit ihnen zusammen zum ersten Mal in ein Kino und kaufte der Familie zum ersten Mal Popcorn. „Ihr braucht jetzt nicht mehr zu kommen“, erklärte ich. Ich erhielt Urlaubspostkarten von Whei-Ing und ihrer Mutter aus Hongkong und Schanghai.

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