Der Seebär und der Landbär

Als ich das Grashalm-Buch geschrieben habe, habe ich viele Leute gefragt, welche Geschichten ich rausschmeißen soll – weil, es waren damals viel zu viele Geschichten – und jeder hat etwas völlig anderes gesagt. Die Lieblingsgeschichten der einen waren die Rausschmeißgeschichten der anderen. Auch wenn mir jetzt Leute ihre Lieblingsgeschichten erzählen, nennt jeder eine andere. Denkt daran, wenn ihr eine schlechte Geschichte findet: Die Schönheit von Geschichten liegt im Hirn des Hörers. Siehe die Fußnote rechts.

Einige Leute haben mich dann auch gefragt, was denn meine Lieblingsgeschichte ist. Die ist mir auf einer winterlichen Autobahnfahrt eingefallen. Bei jedem Rasthof musste ich anhalten und ein Stück aufschreiben, und als ich ankam, war sie fertig. Das ist die Geschichte vom Seebär und vom Landbär:

Der Seebär hatte einst Besuch vom Landbären. Die beiden kannten sich schon seit der Bärenschule. Dann war der Seebär weit in die Welt gereist und hatte viele Abenteuer bestanden und war schließlich reich an Schätzen und Erlebnissen wieder heimgekehrt. Der Landbär war in seiner heimischen Höhle geblieben. Er hatte eine Landbärenfrau gefunden und hatte Landbärenkinder bekommen. Inzwischen hatte er viele Bärenenkel und -urenkel, und alle waren echte, gute Landbären geworden.

„Manchmal wünschte ich, ich könnte noch einmal leben“, sagte der Landbär zum Seebären. „Das geht mir auch so“, antwortete der. „Ich würde vieles anders machen“, sagte der Landbär. „Ja, ich auch“ antwortete der Seebär. „Ich würde zur See fahren“, träumte der Landbär. „Ich würde heiraten“, seufzte der Seebär. „Ich würde Abenteuer bestehen“ erklärte der Landbär. „Ich würde Bärenkinder zeugen“ stellte der Seebär fest. „Ich wäre ein reicher Bär. Ich hätte Schlimmes und Schönes erlebt, wovon ich berichten könnte“, schwärmte der Landbär. „Ich hätte Enkel und Urenkel, die mich lieben und mich versorgen, wenn ich alt und krank werde“, hielt der Seebär fest.

„Und ich säße jetzt mit dir in diesem Seebärenbau“ fuhr der Landbär fort, „…und ich mit dir…“ fiel der Seebär ein. Der Landbär nickte: „Und dann würdest du jetzt zu mir sagen: ‚Manchmal wünschte ich, ich könnte noch einmal leben’ und ich würde antworten: ‚Ja, das geht mir genauso.’“

(Der Grashalm in der Wüste, S. 88)

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